"The Sandman" auf Netflix: vom Kult-Comic zur Erfolgsserie

Der Kult-Comic ist nun eine Netflix-Serie. Die versucht, das seinerzeit revolutionäre Material in eine zeitgemäße Form zu bringen, ohne dessen Seele zu opfern.

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(Bild: Netflix)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

Lange galt das von Neil Gaiman geschriebene Comic-Epos "The Sandman" als unverfilmbar. 1989 erschien das erste Heft – eine überraschend reife Horror/Fantasy-Erzählung mit einer faszinierenden Mythologie, die weitgehend auf eigenen Beinen stand. The Sandman war ein wesentlicher Katalysator dafür, dass Comics das Ghetto der Schmuddelheftchen hinter sich ließen und ernstgenommen wurden.

Zentrale Figur war der ewige Herrscher über die Traumwelt und die Personifizierung der Träume, "Dream" (eben auch: "Sandman" oder "Morpheus"). So konnte die Handlung problemlos durch die Jahrhunderte springen, aus der Realwelt in Fantasiewelten und wieder zurück. Selbst Abstecher in die Hölle gehörten zum Programm. Das Ganze wird mit viel Fantasie und Grusel erzählt, einer Prise britischem Humor und vielen, vielen beeindruckenden Bildern.

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Bis 1996 erschienen insgesamt 75 Hefte, die später zu zehn Sammelbänden gebündelt wurden. Im Laufe der Jahrzehnte entstand eine robuste "Sandman"-Franchise mit Prequel-Comics, Spin-offs, zahlreichen Neuauflagen, Audiobook-Adaptionen und natürlich Merchandise bis zum Abwinken.

Was sich in den 32 Jahren seit dem ersten Heft hingegen nicht materialisierte, war eine Umsetzung in Bewegtbildern. Immer wieder wurden Verfilmungen in Angriff genommen, die aber stets in der Planungsphase stecken blieben.

Zwischenzeitlich wurden zwei andere Gaiman-Werke erfolgreich zu Fernsehserien: "American Gods" (2017) und "Good Omens" (2019). Jetzt sollte auch Sandman in Serie gehen. Da die Figur der Warner-Tochter DC Comics gehört, schloss Warner Bros. Television einen Deal mit Netflix. Und so erschien am 5. August weltweit die erste Staffel von "The Sandman": zehn Folgen stark, insgesamt 8:05 Stunden mit Logos und Abspännen.

Bevor diese Rezension in die Tiefen der Serie eintaucht, sei erst einmal die wichtigste Frage beantwortet: Macht "Sandman" Spaß? Die Antwort: Erfreulich oft. Aber nicht immer – mal mit Absicht, mal nicht.

Ausgangspunkt von "The Sandman" ist, dass es parallel zur Wachwelt eine Traumwelt gibt. Über dieses Reich der Träume herrscht Morpheus, auch "Dream" genannt. Dieser wird im Jahr 1916 von einem machtbesessenen Okkultisten in einem Bannkreis gefangen. Der Fiesling stiehlt dem Sandman auch die Werkzeuge seines Amtes: einen Helm, einen Beutel mit Traumsand und einen Rubin.

Weder Morpheus noch der Fiesling sind mit der Gesamtsituation zufrieden. Eigentlich wollte der Okkultist den Tod fangen. Stattdessen sitzt ein nackter, bleicher Herr der Träume in einem gläsernen Gefängnis im Keller und schweigt eisig alle Verhandlungsversuche tot.

Erst 2021 entkommt Dream dem Gefängnis – als einer der Bewacher während der Arbeit vom Strandurlaub auf Mallorca träumt. Liest sich albern, ist aber toll anzusehen.

In den 105 Jahren seiner Gefangenschaft hat sich nicht nur die Wachwelt verändert: Die Traumwelt und deren zentraler Palast sind in Abwesenheit ihres Herrschers verfallen, die ihm untergebenen Träume und Albträume größtenteils ausgebüxt.

So handeln die nächsten vier Folgen von "The Sandman" davon, wie Morpheus nacheinander seine Artefakte zurückerobert: in einer heruntergekommenen Wohnung, in den Tiefen der Hölle und über den Umweg eines US-amerikanischen 24-Stunden-Diners.

"The Sandman" (6 Bilder)

Zum Anfang hin fährt The Sandman die Gruselkrallen eher zögerlich aus.
(Bild: Netflix)

Nachdem das Gröbste gerade gerichtet ist, besucht Dream seine Schwester bei der Arbeit – sie ist der personifizierte Tod. Denn Morpheus ist einer der sieben "Ewigen", die seit Anbeginn des Universums bestehen. Im Englischen fangen ihre Namen alle mit "D" an: Destiny, Death, Desire, Despair, Delirium ... und einer, dessen Name ungenannt bleibt.

In der zweiten Hälfte der Staffel stellt sich Dream einer Bedrohung, deren Existenz sowohl die Wach- als auch Traumwelt gefährdet. Insgesamt adaptiert die erste Staffel damit die ersten beiden Handlungsbögen der Comics ("Präludien und Notturni", "Das Puppenhaus").

Die Staffel teilt sich in zehn Kapitel mit drei Abschnitten. Die ersten fünf Folgen verfolgen zwei parallele Handlungsstränge: Die A-Story handelt von der Gefangennahme des Sandman und wie er nach seiner Befreiung seine Artefakte zurückerobert. Die B-Story zeigt den Werdegang einer Nebenfigur. Die sechste Folge besteht aus zwei abgeschlossenen Geschichten. Folge 7 bis 10 führen dann die B-Story aus der ersten Staffelhälfte mit einer neuen Geschichte zusammen und bringen sie gemeinsam zum Abschluss.

Diese relativ konventionelle Erzählform ist zugleich eine Stärke und Schwäche der Serie. Eine Stärke, weil sie neuen Zuschauern den Zugang in die mitunter doch sehr wilde Sandman-Welt erleichtert. Eine Schwäche, weil die Drehbücher die in der Comic-Vorlage sehr unkonventionell erzählte Handlung in eine Form pressen, die ihr nicht immer guttut.

Wer nach dem ganzen Hype einen noch nie zuvor gesehenen Horror-Fantasy-Hybriden erwartet hat, den wird die Wiedererkennung vieler Serien-Konventionen womöglich enttäuschen. Vom Binging der ganzen Serie am Stück sei hier abgeraten: Nach mehr als zwei Folgen in Folge beginnt die visuelle Pracht, sich gegenseitig zu zerschlagen.

Schon immer war klar, dass es "The Sandman" nie allen Fans recht machen würde. Schon die ersten Casting-Entscheidungen wurden auf Facebook und Twitter teils höflich beklatscht, teils lauthals beschimpft.

Kennt man die Vorlage nicht, fallen bei der Umsetzung keine offensichtlichen Schwachstellen auf. Traum- und Wachwelt sind wunderschön anzusehen, von alten englischen Anwesen bis hin zum opulenten Palast der Träume.

Die Schauspieler machen ihre Sache teils gut, teils hervorragend. Nur wenige Ausnahmen überzeugen nicht so ganz – darunter Jenna Coleman, die als Johanna Constantine zwar viele Flüche austeilt, dabei aber wirkt, als ob sie sich gleich wieder dafür entschuldigen wollte. Am anderen Ende der Skala wirkt Charles Dance als Roderick Burgess viel zu kompetent, um in seinem Verlies versehentlich den Falschen einzusperren.

Das Production Design ist grandios, jedes Kostüm passt perfekt zur Figur. Die Special Effects sind mehr als annehmbar, wenn auch nicht immer zu 100 Prozent gelungen. Gelegentlich drängt sich das Digitale störend in den Vordergrund, etwa wenn die "Kamera" durch die Windschutzscheibe eines Autos fliegt.

Eine zunächst kurios wirkende Entscheidung betrifft die Optik der Serie: Immer wieder ist das Bild an den Rändern deutlich abgedunkelt, Gesichter werden unnatürlich in die Länge gezogen und der untere Bildrand erscheint unscharf.

Einst waren derartige Unregelmäßigkeiten bei Weitwinkellinsen unausweichlich, bei einer aktuellen Produktion befremden sie eher. Inzwischen hat Netflix gegenüber Variety offiziell bestätigt, dass diese Verzerrungen Absicht sind und den Traumaspekt betonen sollen.