TikTok: "Chinesisches Recht berührt uns nicht, Daten sind sicher"

TikTok beteuert, China keine Daten zu geben. Gegenteilige Gesetze Chinas seien auf TikTok nicht anwendbar. Doch womöglich fällt das gar nicht ins Gewicht.

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TikTok: "Chinesisches Recht berührt uns nicht, Daten sind sicher"

TikTok ist in letzter Zeit die auf Android weltweit zweithäufigst heruntergeladene App. Auch bei iPhones ist TikTok ganz vorne mit dabei.

(Bild: XanderSt/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Die USA befürchten, über TikTok könnten chinesische Geheimdienste an Daten Millionen US-Amerikaner gelangen. Daher will US-Präsident Donald Trump TikTok verbieten oder einen Eigentümerwechsel erzwingen. Das US-Verteidigungsministerium sowie Armee und Kriegsmarine haben TikTok von ihren Geräten verbannt.

US-Unternehmen wie Amazon und die Bank Wells Fargo haben ihren Mitarbeitern ebenfalls kürzlich befohlen, TikTok von ihren Geräten zu löschen, wobei Amazon diese Anordnung nach einigen Stunden wieder zurückgezogen hat. Das nach China bevölkerungsreichste Land der Welt, Indien, hat TikTok gemeinsam mit WeChat und 57 weiteren Apps überhaupt verboten.

TikTok fühlt sich zu Unrecht verdächtigt. "Die Privatsphäre und die Sicherheit der Nutzer haben bei TikTok höchste Priorität, und TikTok verpflichtet sich, die lokalen Gesetze der Märkte einzuhalten, in denen das Unternehmen arbeitet", sagte ein Unternehmenssprecher zu heise online, "Die chinesische Regierung hat keinen Zugriff auf Nutzerdaten von TikTok. Weder hat die chinesische Regierung die Herausgabe von Daten verlangt noch würde TikTok dieser Forderung nachkommen."

Wie aber passt das auf eine Kuhhaut? Das 2017 in der Volksrepublik China in Kraft getretene Staatssicherheitsgesetz verpflichtet alle Bürger, Unternehmen und sonstige Organisationen zur vollumfassenden Unterstützung staatlicher Sicherheitsorgane und Militärs. Und TikTok gehört der chinesischen ByteDance-Gruppe, deren Gründer selbst Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas ist. Kann TikTok gleichzeitig alle Gesetze einhalten und die Herausgabe von Daten verweigern?

Ja, meint TikTok: "TikTok ist nicht in China verfügbar. TikTok hat keine in China ansässigen Ländergesellschaften. Die Nutzerdaten von TikTok liegen auf sicheren Datenzentren von Drittanbietern in den USA und Singapur." Diesen Standpunkt vertritt TikTok spätestens seit dem Vorjahr öffentlich. Bedeutet dies, hakte heise online nach, dass TikTok chinesischem Recht nicht unterliegt? Antwort TikToks: "Das ist derzeit korrekt."

Das Wort "derzeit" mag ein dezenter Hinweis auf einen Vorbehalt in TikToks Datenschutzbedingungen sein. Diese sehen ausdrücklich vor, dass Userdaten in Länder außerhalb des EWR übertragen werden können. Bis vor Kurzem sahen TikToks Bedingungen für deutsche Nutzer noch den Hinweis "insbesondere an Server von Dritten in den Vereinigten Staaten von Amerika und Singapur" vor. Diese weiche Einschränkung ist zum 29. Juli weggefallen. Eine weitere Information oder Warnung der User wäre vor Übertragung der Daten nach China also gar nicht notwendig – flugs unterlägen die Daten auch juristisch gesehen dem Zugriff chinesischer Dienste.

Fergus Halliday, Chefredakteur der australischen PCWorld, traut den Beteuerungen TikToks sowieso nicht: "Wie sehr TikTok und ByteDance auch protestieren mögen, die Lektüre des Gesetzeswortlauts bestätigt, dass beide Unternehmen sowie Personen, die in China tätig sind, Anfragen nach Unterstützung geheimdienstlicher Arbeit Folge leisten müssen", hat er schon im Dezember geschrieben.

Für Halliday hat ein Kotau ByteDances im Jahr 2018 das Vertrauen auf Dauer zerstört. Damals opferte das chinesische Unternehmen seine App Neihan Duanzi, nachdem chinesische Behörden "vulgäre" und "unangemessene" Videos moniert hatten.

Nicht nur stellte Firmengründer Yiming Zhang die Video-Teil-App umgehend ein, er veröffentlichte auch ein Schuldeingeständnis: "Unser Produkt hat den falschen Weg eingeschlagen, und es sind Inhalte aufgetaucht, die mit sozialistischen Kernwerten unvereinbar waren", sagte der Multimilliardär laut PC World.

Zudem habe Zhang versprochen, "die Zusammenarbeit mit maßgebenden Medien zu vertiefen, die Verbreitung von Inhalten maßgebender Medien zu erhöhen, und sicherzustellen, dass maßgebende Medienstimmen kraftvoll verbreitet werden." Halliday übersetzt: "Das beinhaltete in der Praxis, dass ByteDance Mitglieder der Kommunistischen Partei bei Einstellungen bevorzugt und 4.000 zusätzliche Zensoren ins Unternehmen geholt hat."

Dieser Sündenfall "macht es schwer, Vertrauen in die Sicherheit der Nutzerdaten TikToks zu haben. Keine Beteuerungen TikToks können diese Vergangenheit löschen (…). Wenn es hart auf hart kommt, wird ByteDance wahrscheinlich der Kommunistischen Partei Chinas brav gehorchen." Immerhin fügt der Australier hinzu, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass TikTok offen Daten mit der chinesischen Regierung teilt oder mit ihr zusammenarbeitet, um Kritik zu unterdrücken. "Aber wenn morgen die Nachricht kommt, dass sich diese Befürchtungen bewahrheitet haben, wären Sie sehr überrascht?"

Weil in Hongkong ein neues "Gesetz zum Schutz der Nationalen Sicherheit" gilt, hat sich TikTok von dem Markt zurückgezogen. Das reicht aber offensichtlich nicht dazu aus, Bedenken anderer Staaten zu zerstreuen.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Im September waren interne Vorschriften durchgesickert, wie TikTok-Moderatoren Inhalte zensieren sollten. Betroffen waren weite Themen aus dem Bereich Politik und Religion, selbst manche Namen waren bei TikTok gebannt. Ebenso hat TikTok Inhalte mit positivem Bezug zu Homosexualität blockiert.

Auf der Verbotsliste standen beispielsweise "Attacken gegen politische und soziale Richtlinien in allen Ländern; etwa konstitutionelle Monarchie, Monarchie, parlamentarische Systeme, Gewaltenteilung, Sozialismus etc.". Kritik am Einparteiensystem Chinas war also tabu, genauso wie die Kritik an der Besetzung Tibets: "Separatismus, Religionskonflikte, Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, etwa islamischen Glaubensrichtungen, die Abspaltung Nordirlands, die autonome Republik Tschetschenien, Tibet und Taiwan sowie mögliche Konflikte zwischen hellen und dunkelhäutigen Menschen".

Während jedoch ein Großteil der Fälle mit der Markierung "eingeschränkte Sichtbarkeit" nicht mehr weiter verbreitet wurde, war alles, was Falun Gong betrifft zu löschen, weil diese Inhalte als "Gewalt" eingestuft werden. Löschenswert waren auch Videos und Kommentare zu 20 konkreten Personen; von Kim Jong-il über Putin, Trump und Obama bis Mahatma Ghandi.

Im März gelang es The Intercept, weitere interne Richtlinien TikToks ans Tageslicht zu bringen. Demnach waren Moderatoren dazu angehalten, User zu unterdrücken, die "zu hässlich, arm oder behindert" sind. Beiträge sollten zudem darauf untersucht werden, ob im Hintergrund Risse in Wänden oder "schäbige Dekoration" zu sehen ist. Postings dieser User sollten dann zwar nicht gelöscht aber schwer auffindbar gemacht werden: so genanntes Shadow-Banning.

Ein weiteres TikTok-Dokument aus dem Vorjahr widmete sich Livestreams. Wer über Naturkatastrophen oder Militärbewegungen oder "staatliche Organe wie die Polizei" berichtet, Beamte bloßstellt oder sonst Material verbreitet, das die "Nationale Sicherheit" bedrohen könnte, sollte von TikTok ausgeschlossen werden.

Laut TikTok sind die meisten dieser eigenen Regeln nicht mehr in Kraft. Der Ansatz sei nicht richtig gewesen. Stattdessen sollen nun lokale Teams entscheiden, was in ihrem jeweiligen Land zensiert wird.

Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass China-kritische Stimmen nun gehört werden sollen. Im Juni hat die Zeitung Times of India über umfangreiches aber unvorhersehbares Shadow-Banning durch TikTok berichtet. Bei Shadow-Banning werden Beitrag zwar nicht gelöscht, aber so versteckt, dass sie kaum jemand oder niemand findet.

Während Hashtags wie #boycottchina und #boycottchinaproduct über hunderttausend Videoabrufe zählten, waren #tiananmenmassacre, #xinjinpingismydaddy, #ladakhchinaborder, #chinaladakh und #chinainladakh zwar existent, hatten aber jeweils null Zugriffe. Ladakh ist jene Grenzregion, in der sich China und Indien dieses Jahr Gefechte geliefert haben. Auch Namen von Orten an der Grenze zu Tibet und zu Pakistan wurden laut Bericht Opfer des Shadow-Banning.

Ein Video einer indischen Komikerin mit China-kritischen Witzen wurde hingegen gleich gelöscht – und nach kritischen Berichten wieder eingestellt. Ähnlich erging es in den USA den Hashtags #BlackLivesMatter und #GeorgeFloyd, die einem "Fehler" TikToks zum Opfer gefallen sein sollen.

Für Sarah Cook, China-Expertin des Freedom House, ist diese Beteuerung, TikTok würde sich Befehlen Pekings nach Datenherausgabe widersetzen "unrealistisch." Denn es könne schnell viel Druck aus Peking kommen. "Es wäre schwierig, wenn nicht unmöglich sich dem zu widersetzen", sagte Cook, "Die Kommunistische Partei arbeitet wie die Mafia. Sie können nie wissen, wie die reagieren, wenn Sie 'Nein' sagen."

Sarah Cook ist Senior Research Analyst für China, Hongkong und Taiwan bei Freedom House. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 1941 u.a. von Eleanor Roosevelt gegründet und hat die Förderung liberaler Demokratie zum Ziel.

(Bild: Freedom House)

TikTok-Eigentümer ByteDance sei nicht nur eine chinesische Firma, sondern habe ja auch einen chinesischen CEO und chinesische Mitarbeiter. Innerhalb jeder chinesischen Firma bestünden Parteikomitees. Und die einzelnen Parteimitglieder hätten schon von sich aus Interesse daran, brav zu sein, um innerhalb der Partei aufzusteigen.

Eine Lösung für TikTok ohne Verkauf an Dritte sei schwierig: "ByteDance und TikTok sitzen da zwischen zwei Stühlen." Denn sie müssten sich an widerstreitende Gesetze verschiedener Länder halten. Und die Reaktionen aus Peking auf unerwünschtes Verhalten oder Kooperationsverweigerung seien unabsehbar. "Sie könnten mit Verboten und Strafen belegt werden, für etwas, das auf dem Papier gar keinen Bezug zum konkreten Verhalten hat."

"Die Chinesen haben überhaupt kein Problem damit, ihre eigenen Regeln und Versprechen zu brechen", berichtete Cook. Das habe die Welt zuletzt an der Einführung eines "Sicherheitsgesetzes" in Hongkong sehen können. Das Versprechen, Hongkongs System samt Autonomie sowie Presse- und Versammlungsfreiheit bis 2047 bestehen zu lassen, gilt plötzlich nichts mehr.

Auf iPhones hat TikTok laufend die Zwischenablage kopiert, ohne dass Nutzer das initiiert hatten. Und weil große Teile des Datenverkehrs zwischen der App und TikToks Servern nicht verschlüsselt wurde, war es möglich, TikTok-Nutzern Fake-Videos unterzuschieben. Zudem ermöglichten serverseitige Schwachstellen Account-Manipulationen.

Das könnten irrtümliche Fehler gewesen sein, meint Cook. Aber selbst wenn die TikTok-App heute nichts Anrüchiges im Schilde führe, könne sich das durch jedes Update ändern.

Die China-Expertin fordert "mehr Transparenz seitens der Regierungen wie etwa Indiens und der USA." Sie sollten sagen, "ob es irgendwelche Beweise gibt, die den politischen Maßnahmen Glaubwürdigkeit verschaffen würden. Sie sollen klarstellen, dass es ernste Sicherheitsbedenken gibt, und dass es keine Anti-China-Politik ist." Ansonsten würden die Verbote berechtigte Sicherheitsbedenken von Fachleuten untergraben.

Nicht nur wird immer wieder Malware in chinesischer Hardware gefunden, sie kommt auch im Gewand staatlich unterstützter Software daher. Letztes Jahr machte eine App, mit der regimetreue Chinesen die Ideologie von Präsident Jinping Xi studieren sollen, Schlagzeilen, weil sich darin eine Hintertür befand.

Erst vor kurzem musste das FBI vor einer chinesischen Steuersoftware warnen. Denn eine in China für ausländische Unternehmen verpflichtende Software zur Umsatzsteuererklärung installiere heimlich Malware mit. Diese erlaube über eine Hintertür Zugang zu Firmennetzwerken mit Administratorrechten und so etwa das Aufspielen von Überwachungsprogrammen. So etwas ist bei TikTok nicht gefunden worden.

Neben dem Risiko, eine Diktatur in sozialen Netzwerken Daten ernten oder Informationen zensieren zu lassen, besteht vielleicht eine noch größere Gefahr in dem, was soziale Netzwerke aktiv verbreiten. "Die Reichweite dieser Apps zu ignorieren könnte sich als fataler Fehler herausstellen. Die Durchdringungskraft sozialer Netzwerke und die Tiefe der Nutzerdaten, die sie sammeln, macht sie zu einem sehr starken Werkzeug sowohl für Spionage als auch für die Manipulation öffentlicher Meinung", warnte die bei der aktuell bei der Nationalbank Italiens arbeitende Ökonomin Claudia Biancotti schon Anfang 2019.

In dieses Horn stieß auch Cook im Gespräch mit heise online. Den Schutz von Userdaten zum entscheidenden Kriterium zu machen, greife vielleicht zu kurz. Denkbar sei auch die Manipulation von Inhalten, oder auch nur bei Lügenkampagnen Dritter ein Auge zuzudrücken.

"TikTok selbst wird seine Reichweite vielleicht nie über Teenager hinaus ausdehnen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bevor eine chinesische App mit breiterer Attraktivität die Märkte Europas und der USA betritt", schrieb Biancotti. Das könnte sich zu einem "Problem der Größe Huaweis" auswachsen "was den Zugriff chinesischer Geheimdienste auf den Westen" betrifft.

"So schwerwiegend diese Bedrohung ist, sie ist bei Weitem nicht die einzige", legte Biancotti nach, "Wenn China weiterhin westliche Plattformen verbietet während es die Internationalisierung seiner eigenen vorantreibt, hat es die Chance, globale Vorherrschaft zu erringen. Dieser Aufschwung könnte zu Vorteilen in anderen Bereichen führen, da soziale Netzwerke generell Teil eines größeren Ökosystems sind, wo personenbezogene Daten viele Produkte und Dienstleistungen treiben, darunter die Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI)."

"Unschuldig wirkende Apps wie TikTok könnten zu den trojanischen Pferden des KI-Wettrennens zählen", warnte die Ökonomin, "China sollte sie nicht in alle Welt bringen dürfen, während es den Wettbewerb im Heimatmarkt umbringt."

TikTok ist die internationale Version der chinesischen App Douyin. Beide setzen stark auf kurze, nutzergenerierte Videos, in der Regel mit Musikuntermalung. Stand November hatte Douyin 400 Millionen aktive Nutzer in China, wie eine ByteDance Managerin, die gleichzeitig Parteisekretärin des Unternehmens ist, damals angegeben hat. Wie bei großen chinesischen Unternehmen üblich gibt es auch bei ByteDance ein Parteigremium, das innerhalb der Firma nach dem Rechten sieht.

Außerhalb Chinas dürfte TikTok mindestens ebenso viele monatlich aktive User zählen, wie eine Schätzung Datareportals zeigt. Bis April war die App mehr als zwei Milliarden mal von Google Play und Apples App Store heruntergeladen worden. Der schnelle Aufstieg gelang durch die Einverleibung der US-App Musical.ly im August 2018 und nachfolgend starkes Wachstum, dieses Jahr speziell durch die Coronavirus-Pandemie genährt. Alleine im ersten Quartal des Jahres ist die TikTok-App 315 Millionen mal heruntergeladen worden.

Vorwürfen, Postings der Demokratiebewegung aus Hongkong unterdrückt zu haben, entgegnete ByteDance bereits mit dem Argument, TikTok sei ein Ort der Unterhaltung, nicht für politische Inhalte. Mit Inkrafttreten des neuen "Sicherheitsgesetzes" hat ByteDance TikTok aus Hongkong zurückgezogen.

(ds)