Türkei: Kräftige Selbstzensur nach gescheitertem Coup

Nach dem gescheiterten Militärcoup in der Türkei twitterten viele Bürger weniger und löschten eigene Tweets und Twitter-Konten. Die staatliche Zensur hatte weniger zu tun.

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Luftuafnahme des Bosporus

Am Bosporus wurde nach dem Coup nur halb so viel getwittert. Zudem wurden viele ältere Tweets von ihren Autoren gelöscht.

(Bild: Selda Yildiz & Erol Gülsen CC-BY-SA-3.0-DE)

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Inhaltsverzeichnis

Nach dem fehlgeschlagenen Staatsstreich in der Türkei vom 15. Juli 2016 ging die türkische Twitter-Zensur zurück. Wie sich zeigt, beschränkten sich türkische User selbst und twitterten viel weniger. 41 Prozent der User löschten sogar frühere Tweets oder gleich ihr Konto. Türkische Behörden dürften also weniger Anlass für Redeverbote gesehen haben. Dies schließen Forscher aus ihrer Analyse von 8,5 Millionen Tweets.

Die Wissenschaftlerin Rima S. Tanash und ihre Kollegen von der texanischen Rice-Universität hatten diese Tweets von 15. Juli bis 29. September 2016 live über eine offizielle Twitter-Schnittstelle abgerufen. Sie konzentrierten sich dabei auf Tweets aus den drei türkischen Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir, und erfassten dabei rund 343.000 aktive Twitter-Accounts.

Rima S. Tanash hat ihre Auswertungen am Montag in Vancouver auf dem 7. Usenix Workshop on Free and Open Communications on the Internet (FOCI '17) vorgestellt.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Später haben die Forscher versucht, alle gesammelten Tweets erneut abzurufen. Dabei offenbarte sich, dass etwa jeder Fünfte der 8,5 Millionen Tweets nicht mehr (öffentlich) verfügbar war. Die User hatten ihre Tweets gelöscht, ihren Twitter-Account auf "nicht-öffentlich" umgestellt oder ihn überhaupt gelöscht. 41 Prozent der zunächst erfassten User hatten wenigstens eine dieser Maßnahmen ergriffen.

Die Datenwissenschaftler sehen das als Ausweis intensiver Selbstzensur: Die User versuchten offenbar, sich damit vor Repressalien zu schützen. Interessanter Weise war die selbsteinschränkende Usergruppe zuvor weitgehend apolitisch gewesen: Nur sechs Prozent ihrer Tweets waren politischer Natur gewesen, und sie hatten kaum die Gülen-Bewegung oder andere politische Gruppen thematisiert.

Dank eines früheren Forschungsprojekts verfügten die Wissenschaftler über 5,6 Millionen ältere Tweets. Sie waren während der 24 Tage vor den türkischen Wahlen vom Juni 2015 aus den drei genannten türkischen Städten verschickt worden. Diese Datenbank ermöglichte Vergleiche mit den Tweets aus der Zeit nach dem versuchten Militärcoup vom Juli 2016.

Die Zahl der aufgrund behördlicher Verfügungen gesperrten Tweets in den 24 Tagen nach dem fehlgeschlagenen Coup vom Juli 2016 war um 72 Prozent geringer, als in dem Vergleichsdatensatz aus dem Juni 2015. Twitter sperrt Tweets grundsätzlich nur im jeweiligen Land und weist das Land in einem eigenen Datenfeld withheld in countries aus. Aus Texas waren die Tweets also abrufbar, wobei erkennbar war, dass sie auf behördliche Verfügung in der Türkei unterdrückt werden. Inhaltlich unterdrückt die behördliche Zensur laut der Studie Kritik an Korruption sowie Begriffe, die in Zusammenhang mit Kurden stehen.

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Gleichzeitig wurde in den drei türkischen Großstädten nur halb so viel getwittert wie gut ein Jahr davor. Auch das interpretieren die Forscher als Indiz für Selbstzensur der Türken. Nur ein kleiner Teil dieses Rückgangs dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Twitter-Traffic in der Türkei in den ersten Tagen nach dem Coupversuch absichtlich gebremst wurde. Das Tor-Netz erscheint übrigens kein probates Mittel gegen Selbstzensur zu sein: Auch die Tor-Nutzung ist in der Türkei nach dem gescheiterten Coup zurückgegangen.

Kein Staat lässt so viele Tweets sperren wie die Türkei. Von den in den letzten fünf Jahren (2012-2016) auf behördliche Anordnung gesperrten Tweets entfallen 78 Prozent auf die Türkei, wenn man Twitters Transparenzberichten folgt. Wegen Urheberrechtsverletzung oder Verstoß gegen die Twitter-Richtlinien gesperrte Tweets sind darin übrigens nicht berücksichtigt.

Allerdings lässt die Untersuchung der Rice-Universität Zweifel an der Stichhaltigkeit der Transparenzberichte Twitters aufkommen: In allen von 15. Juli bis 1. November 2016 aus den drei türkischen Großstädten verschickten Tweets (ohne Retweets), fanden die Wissenschaftler 6.402 Tweets, die auf behördliche Anordnung in der Türkei unterdrückt werden. In Twitters Transparenzbericht werden aber für die gesamte Türkei (nicht nur drei Städte) und das gesamte zweite Halbjahr 2016 (nicht nur dreieinhalb Monate) lediglich 489 unterdrückte Tweets angeführt. heise online hat Twitter am Montag ersucht, diese Diskrepanz zu erklären.

(ds)