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USA: Verbindliche Standards dürfen frei veröffentlicht werden​

Daniel AJ Sokolov
Richterhammer, im Hintergrund unscharf eine Statue der Justizia

(Bild: Zolnierek/Shutterstock.com)

Public.Resource.Org veröffentlicht rechtsverbindliche Standards, die sonst nur mühsam oder teuer zu lesen wären. In Deutschland verboten, in den USA erlaubt.​

Wie teuer oder mühsam darf es sein, rechtsverbindliche Standardisierungsnormen zu konsultieren? In Deutschland sehr, in den USA nicht mehr: Dort hat die gemeinnützige Stiftung Public.Resource.Org nach einem Jahrzehnt Verfahrensdauer ein wegweisendes Urteil erstritten. Demnach ist es kein Verstoß gegen US-Copyright, wenn rechtsverbindliche Standards ohne Lizenz und gebührenfrei online gestellt werden. Das hat am Dienstag ein US-Bundesberufungsgericht bestätigt.

Ob diese Standards überhaupt Copyright-Schutz genießen, und wenn ja, wer die Rechteinhaber sind, lässt das Berufungsgericht offen. Sofern sie aber unter Copyright fallen sollten, greift das Recht auf Fair Use. Ziel des US-Copyright ist es, "den Fortschritt von Wissenschaft und nützlicher Kunst zu fördern". Wenn es hilft, dieses Ziel zu erreichen, können fremde Werke auch genutzt werden, wenn die Rechteinhaber nicht zustimmen. Diese Doktrin ist als Fair Use bekannt. Wann genau Fair Use vorliegt, ist im Gesetz aber nicht abschließend geregelt. Das wäre auch sehr schwierig.

Im Streitfall müssen mindestens vier Faktoren geprüft werden: Es kommt auf den Zweck der Nutzung an – kommerziell, nicht-kommerziell oder für Bildung – sowie auf die Art des Werks, die genutzten Ausschnitte im Vergleich zum Gesamtwerk und schließlich die Auswirkungen auf den potenziellen Markt oder Wert des Werks. Die vier Prüfungsergebnisse müssen dann gegeneinander abgewogen werden.

Public.Resource.Org veröffentlicht seit vielen Jahren amtliche Dokumente aller Art, darunter Gesetze und auch Standardisierungsnormen, die Gesetzgeber in den USA per Verweis für rechtsverbindlich erklärt haben. Das stört die privaten Standardisierungsgremien, die ihre Standards teuer verkaufen möchten. Sie sehen ihr Copyright verletzt. Mehrere von ihnen haben Public.Resource.Org 2013 und 2014 in zwei Klagen vor das US-Bundesbezirksgericht für den Hauptstadtbezirk District of Columbia zitiert und in erster Instanz gewonnen.

Das Bundesberufungsgericht für den District of Columbia schickte den Fall aber zurück ans Bezirksgericht, mit der Anweisung, mehr Fakten über die Umstände zu sammeln und Fair Use besser zu prüfen. Das Bezirksgericht änderte tatsächlich seine Einschätzung: Es stellte fest, dass ein Fall von Fair Use vorliegt, zumal Public.Resource.Org keine Gewinnabsichten verfolgt, die Bevölkerung bilden möchte, und das Wissen über geltendes Recht im öffentlichen Interesse ist. Das Gewicht des öffentlichen Interesses bei Fair Use entspringt nicht zuletzt dem berühmten Supeme-Court-Erkenntnis im Java-Streit zwischen Google und Oracle [1]. Eine der beiden Klage von Normungsinstituten wurde daraufhin beigelegt (wobei die Stiftung auf ihren Verfahrenskosten sitzen blieb), doch die anderen Kläger gingen in Berufung.

Carl Malamud an Rednerpult

Carl Malamud kämpft seit Jahrzehnten für die freie Zugänglichkeit amtlicher Unterlagen. Er hat die Stiftung Public.Resource.Org gegründet und wurde von der Electronic Frontier Foundation mit dem EFF Pioneer Award geehrt.

(Bild: Joel Hall/Gorinin CC BY 2.0 [2] )

Also war erneut das Berufungsgericht am Zug, und es hat Public.Resource.Org diese Woche einen vollen Erfolg beschert: Drei der vier Faktoren von Fair Use sprächen eindeutig für die gebührenfreie Veröffentlichung durch Public.Resource.Org, der vierte Faktor wiege für beide Seiten des Konflikts gleich schwer.

Dabei verweist das Gericht auf einen anderen großen Erfolg derselben Stiftung: 2020 hat Public.Resource.Org das Recht erstritten, die Gesetze des US-Staates Georgia veröffentlichen zu dürfen [3]. Der Staat hat über viele Jahre versucht, sein Recht hinter einer Paywall des Verlages LexisNexis zu verstecken. Einwohner mussten 412 Dollar zahlen, um das für sie geltende Recht lesen zu dürfen. Besucher des Staates mussten den für sie geltenden, wohl höheren Preis sogar telefonisch erfragen. Zwar unterliegen Gesetze in den USA nicht dem Copyright, doch wandte Georgia einen Trick an: Der Gesetzestext wurde nur in einer Fassung mit unverbindlichen Kommentaren durchsetzt herausgegeben, die Copyright-geschützt sind.

Diesen Trick akzeptierte das angerufene Bundesbezirksgericht sogar, nicht aber die Berufungsinstanz und der US Supreme Court (Georgia v. Public.Resource.Org, Az. 18-1150): "Von jedem Bürger wird angenommen, dass er das Recht kennt, und es braucht keine Diskussion, zu zeigen, dass alle freien Zugang haben sollten", zitiert jetzt das Bundesberufungsgericht in seinem Urteil zu den Standardisierungsnormen aus dem damaligen Erkenntnis des Supreme Court.

Die Standardisierungsgremien verwiesen vergeblich auf die gebührenfreien Lesestationen, die sie an verschiedenen Standorten eingerichtet haben. Diese erwiesen sich juristisch sogar als Bumerang. Erstens gab es vor den Veröffentlichungen der Stiftung nur ein einziges solches Terminal in den USA. Zweitens untergraben diese Lesestationen das Argument des Einnahmeverlustes durch die gebührenfreie Veröffentlichung im Internet bis zu einem gewissen Grad. Drittens sind die Terminals so userfeindlich gestaltet, dass die Veröffentlichung der Standards auf der Webseite von Public.Resource.Org um Eckhäuser besser ist – so viel besser, dass die Bereitstellung als "transformative" gilt. Und andere Darstellungs- oder Nutzungsformen sind regelmäßig ein Argument für Fair Use.

"Die Leseräume der Kläger bieten keinen äquivalenten oder wenigstens komfortablen Zugang zu den (verbindlichen) Standards. Unter anderem kann man den Text nicht durchsuchen, ausdrucken oder herunterladen, und man kann ihn nicht vergrößern, ohne, dass er unscharf wird", hält das Berufungsgericht fest, "Oft kann ein Leser nur einen Teil der Seite auf einmal sehen, und, nach Zoomen, muss er von rechts nach links scrollen um eine einzelne Zeile Text zu lesen. Die Postings von Public.Resource.Org leiden unter keinem dieser Mängel."

Damit darf die Stiftung rechtsverbindliche Standards auch weiterhin veröffentlichen – allerdings nur in der verbindlichen Form. Häufig werden die Standards weiterentwickelt, während das US-Gesetz noch auf die alte Fassung verweist. Für Einblick in diese neuen (noch) nicht verbindlichen Standards dürfen die Herausgeber weiterhin ihr Monopol verwerten.

In Deutschland ist die Situation ähnlich, die Rechtslage aber völlig anders. Auch hier legen nicht vom Volk gewählte Experten in tausenden rechtsverbindlichen Standards fest, wie sich Bürger zu verhalten haben. Die Vorschriften kommen hier meist von Vereinen, auf deren Werke der Gesetz- oder Verordnungsgeber bloß verweist, gerne auch "in der jeweils gültigen Fassung". Ändert der herausgebende Verein dann die Norm, ändert sich automatisch die Rechtslage.

Wer wissen möchte, was gerade gilt, muss entweder bezahlen, oder zu bestimmten Öffnungszeiten ein Terminal aufsuchen. Gebührenfrei ausdrucken oder gar online lesen ist nicht. 90 Terminalstandorte sind über das Bundesgebiet verstreut; beispielsweise gibt es zwei in Hannover, einen in Brandenburg, keinen im Saarland. Besonders viele Standards kommen vom Deutschen Institut für Normung e. V. (DIN), dessen größte Finanzquelle die Zugangsgebühren für Standards sind.

Im deutschen Urheberrechtsgesetz gibt es sogar einen eigenen Absatz, der dieses Geschäftsmodell schützt. Paragraf 5 erklärt in Absatz 1, dass "Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfasste Leitsätze zu Entscheidungen keinen urheberrechtlichen Schutz" genießen. Doch Absatz 3 nimmt "private Normwerken" davon aus. Deren Rechteinhaber müssen zwar Dritten das Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung einräumen, aber nicht gebührenfrei, sondern zu "angemessenen Bedingungen."

Das Oberlandgericht Hamburg hat 2017 abgelehnt, die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung überprüfen zu lassen (27.07.2017, 3 U 220/15 Kart [4]) und Public.Resource.Org zur Unterlassung der Veröffentlichung von DIN-Normen sowie Kostentragung verurteilt. 2021 scheiterte die Organisation mit einem Antrag an den Europäischen Gerichtshof (EuGH, Rechtssache T-185/19 [5]).

Dort versuchte sie, gemeinsam mit der irischen Organisation Right to Know freien Zugang zu rechtsverbindlichen CE-Normen für Sicherheit von Spielzeug zu erstreiten. Die Kläger argumentierten, unter anderem, dass Normen nur in so geringem Ausmaß kreativ seien, dass die gar nicht die für Urheberrechtsschutz notwendige Schöpfungshöhe erreichen. Die EU-Kommission hatte die Herausgabe dennoch abgelehnt, was der EuGH bestätigt hat: Es liege nicht an der EU-Kommission, zu überprüfen, ob rechtsverbindliche Standards dem Urheberrecht unterliegen. Das sei Aufgabe nationaler Gesetzgeber und Gerichte.

(ds [7])


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[1] https://www.heise.de/news/Java-Verwendung-in-Android-Google-gewinnt-Rechtsstreit-gegen-Oracle-6005536.html
[2] https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en
[3] https://www.heise.de/hintergrund/USA-Gesetze-duerfen-nicht-hinter-Paywall-versteckt-werden-4712393.html
[4] https://openjur.de/u/2194637.html
[5] https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;?text=&docid=244113&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1
[6] https://www.heise.de/downloads/18/4/3/0/3/2/1/9/2023-09-12_opinion.pdf
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