Web Summit startet (fast) ohne Big Tech

Google, Meta und Amazon fehlen: Dafür begrüßte Chefin Katherine Maher Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und mahnte das Recht auf freie Meinungsäußerung an.

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Katherine Maher nutzte den Auftakt des Web Summit in Lissabon, um für eine offene Debattenkultur zu werben.

(Bild: Hartmut Gieselmann)

Lesezeit: 7 Min.
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Nach dem Wirbel der vergangenen Wochen hat am Montagabend der Web Summit in Lissabon begonnen. Zur größten Konferenz für Internetunternehmen, Werbetreibende, Start-ups und Investoren werden mehr als 70.000 Besucher erwartet. Im Mittelpunkt stand der Auftritt der neuen Web-Summit-Chefin Katherine Maher, die sich als souveräne Krisenmanagerin präsentierte. Was war passiert?

Selten hat ein einzelner Tweet in der IT-Szene für so viel Aufregung gesorgt wie der von Paddy Cosgrave am 13. Oktober 2023. Um 12:21 Uhr schrieb er auf X, er sei schockiert über die Rhetorik und die Taten vieler westlicher Regierungen, mit Ausnahme der irischen. Cosgrave bezog sich damit auf den irischen Regierungschef Leo Varadkar, der zuvor gewarnt hatte, die Solidarität mit Israel könne bröckeln, wenn die Regierung Netanjahus in ihrer Reaktion auf den Anschlag der Hamas "zu weit" gehe. "Kriegsverbrechen bleiben Kriegsverbrechen, auch wenn sie von Verbündeten begangen werden, und sollten als das benannt werden, was sie sind", schrieb Cosgrave auf X.

EIn folgenschwerer Tweet, auf den hin Paddy Cosgrave von seinem Posten als CEO des Web Summit zurücktrat.

Es folgten empörte Absagen für den diesjährigen Web Summit, nicht nur aus Israel, sondern auch von zahlreichen IT-Konzernen, darunter Google, Amazon, Meta, Intel und Siemens. Einzig Microsoft ließ seine für Nachhaltigkeit zuständige Managerin Melanie Nakagawa die Reise nach Lissabon antreten.

Zuletzt sagte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck Ende vergangener Woche seinen geplanten Besuch ab. Da war Cosgrave längst zurückgetreten. In einer Bitte um Entschuldigung betonte Cosgrave das Existenzrecht Israels und dessen Recht auf Selbstverteidigung.

Mit Spannung wurde daher die Antrittsrede von Cosgraves Nachfolgerin Katherine Maher zum Auftakt des Web Summit am Montagabend in Lissabon erwartet. Die 40-jährige Maher, zuvor Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation, sprach die Entwicklung unverblümt an. Vor allem die Big-Tech-Unternehmen aus den USA, die ihre Teilnahme gecancelt hatten, erinnerte sie an den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, der das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert.

"Ich glaube, dass jeder überall das Recht hat, seine Meinung zu jedem Thema zu äußern, auch zu dem, was in der Welt passiert. Das gilt unabhängig davon, ob diese Meinungen klug und gut durchdacht sind oder ob sie belanglos sind und im endlosen Scrollen untergehen – wir alle kennen das. Hätten wir dieses Recht auf freie Meinungsäußerung und Debatte nicht, wären die Bühnen des Web Summit leer von Ideen, Wettbewerb und Veränderung. Wir erwarten in den nächsten Tagen viele Diskussionen auf diesen Bühnen", sagte Maher unter dem Applaus der bis zu 20.000 Zuschauer fassenden Altice Arena in Lissabon. Viele Teilnehmer verfolgten die Veranstaltungen auch draußen auf einer Videoleinwand vor der Halle, die wegen Überfüllung geschlossen war.

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Mahers Ex-Kollege und Wikipedia-Gründer Jimmy Wales stärkte der neuen Web-Summit-Chefin anschließend den Rücken. Angesprochen auf eines der Top-Themen der Konferenz, künstliche Intelligenz, erzählte er, dass er selbst noch nicht ganz warm mit der Technik sei. Zurzeit würden Chatbots noch zu viel "plausibel klingenden Nonsens" auswerfen. So vergesse ChatGPT etwa bei der Aufzählung von "Ländern in Afrika mit k" Kenia.

Wales betonte, dass bereits über "100.000 echte Intelligenzen" an der Wikipedia arbeiten, die viel leistungsfähiger seien als die Sprachmodelle der großen KI-Firmen. Doch die Technik werde stetig besser und sei auch heute schon als Hilfe zu gebrauchen: etwa, um thematische Lücken in der Wikipedia zu finden. So könne die Technik ein "Produktivitäts-Booster" sein.

Im Hinblick auf Big Tech und die aktuellen politischen Krisen erklärte Wales, er sei sehr froh, dass Wikipedia von vielen einzelnen Menschen finanziert und bespielt werde. So sei der Dienst unabhängig von Regierungen und einzelnen Unternehmen. Es sei gefährlich, wenn man auf die Gunst eines einzelnen Sponsors angewiesen sei, daher sei es wichtig, dass möglichst viele Menschen Wikipedia mit kleinen Beiträgen unterstützen.

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales freute sich auf dem Web Summit, dass viele KI-Unternehmen ihre Sprachmodelle mit Texten von Wikipedia trainieren. "Das ist besser, als wenn sie nur Tweets von Elon Musk verwenden würden," erklärte Wales auf der Auftaktveranstaltung.

(Bild: Hartmut Gieselmann)

Dass religiöse Streitigkeiten schlecht für das Geschäft und das Wirtschaftswachstum sind, machte auch Lissabons Bürgermeister Carlos Moedas deutlich. Dank des Wirtschaftsprogramms sei es Lissabon gelungen, 54 Start-ups in der Unicorn Factory zu beherbergen. Ein Dutzend davon würden als Einhörner gehandelt und hätten 10.000 Arbeitsplätze in der Stadt geschaffen. Als Einhörner bezeichnet man Start-ups, die vor ihrem Börsengang mit über einer Milliarde US-Dollar bewertet werden. Im nächsten Schritt will Moedas Lissabon zu seinem Ursprung als "sicherer Hafen" zurückführen, der Juden, Muslime und Christen gleichermaßen beherbergen kann.

Der portugisische Wirtschaftsminister Antonio Costa Silva mahnte die Konferenzteilnehmer mit Hinblick auf die anstehenden Umwälzungen durch KI, sie müssten sich entscheiden, welche Zukunft sie wollen: Die der Matrix oder die von Star Trek. Er selbst bevorzuge Star Trek und hoffe, dass die IT-Start-ups Lösungen für dringende Probleme wie den Klimawandel und das drohende Abtauen der Permafrostböden fänden.

Der portugiesische Wirtschaftsminister Antonio Costa Silva wurde nach der Eröffnungsveranstaltung von Journalisten umringt. Nach dem Rücktritt des portugiesischen Premierministers Antonio Costa Ende vergangener Woche wegen Korruptionsvorwürfen steht die Regierung massiv unter Druck.

(Bild: Hartmut Gieselmann)

Die Abwesenheit von Big Tech aus den USA eröffnet Chancen für andere. Auf dem Web Summit sind laut Maher mehr als 2600 Start-ups aus 160 Ländern vertreten. In kurzen Pitch-Runden präsentieren sie ihre Produkte auf den Bühnen des Geländes: Die Ideen reichen von KI-Produkten über Kommunikations-Apps bis hin zu schmerzlindernden, Tampons mit wasserlöslicher Folie. Alle Start-ups hoffen, in ihren zehnminütigen Talks die Aufmerksamkeit eines Investors auf sich zu ziehen. Dazu sind unzählige PR-Firmen vor Ort, die angereiste Medienvertreter, darunter auch Nachrichtensender wie Al Jazeera und CNN, umlagern.

Zahlreiche vor allem englischsprachige Medien berichten über den Web Summit, der in diesem Jahr zwischen die politischen Fronten geraten ist.

(Bild: Hartmut Gieselmann)

Große Namen sind derweil rar: Aushängeschilder sind in diesem Jahr Signal-Chefin Meredith Whittaker und Wladimir Klitschko, der mit seiner Stiftung für Start-ups in der Ukraine wirbt. Der britische Ölkonzern Shell trommelt für neue Energiekonzepte. Er will sich als Teil der Lösung des Klimawandels präsentieren und nicht als Teil des Problems.

Aus China ist Alibaba-Chef Kuo Zhang dabei. Dazu gesellen sich Pepsi, Qualcomm und ein paar brasilianische Fußballstars, die ihre Millionen auch in Unternehmen aus der IT-Branche investieren wollen. Hinzu kommen Regierungsvertreter aus Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, der EU und das deutsche Wirtschaftsministerium, das in seinem "German Park" 120 Start-ups aus Deutschland zu Gast hat.

Trotz der Absagen will der Web Summit mit 71.000 registrierten Besuchern das Vorjahresergebnis wiederholen. Gelingt dies trotz der Zäsur, könnte es der Startschuss für ein neues europäisches Selbstbewusstsein in der IT sein.

(hag)