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Wie Forscher aus Hirnaktivitäten den Gesang eines Vogels rekonstruieren

Dr. Wolfgang Stieler

(Bild: Mario Mendez / Unsplash)

Eine Wissenschaftlergruppe hat die neuronale Aktivität von Finken aufgezeichnet und daraus ihr Zwitschern rekonstruiert.

Auf den ersten Blick wirkt das, was Timothy Gentner und Kollegen von der University of California San Diego tun, etwas seltsam: Die Forscher zeichneten die neuronale Aktivität im sogenannten HCV [1] von Zebrafinken auf – einer Hirnregion, die beim Singen aktiv ist. Mithilfe der Nervensignale trainierten sie anschließend ein neuronales Netz, das den mit den Hirnaktivitäten verbundenen Gesang synthetisieren sollte. Technische Details ihres Experimentes beschreiben die Forscher in einer Studie [2], die kürzlich in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht wurde.

Die Zebra-Finken dienen den Forschern nur als Zwischenziel. Sie wollen eine Stimmprothese entwickeln, die sich allein mit dem Auslesen von Hirnaktivitäten steuern lässt. "In den Köpfen vieler Menschen ist es ein ziemlich großer evolutionärer Sprung, von einem Singvogelmodell zu einem System zu gelangen, das schließlich beim Menschen eingesetzt wird", sagt Vikash Gilja, einer der Autoren der Studie. Tatsächlich sind die Gehirne von Vögeln jedoch überraschend komplex [3] und es gibt zahlreiche Parallelen [4] zum Menschen.

"Obwohl sich der Vogelgesang in wichtigen Punkten von der menschlichen Sprache unterscheidet, haben die beiden Vokalsysteme viele Ähnlichkeiten, einschließlich der Merkmale der sequenziellen Organisation und der Strategien für ihren Erwerb", schreiben die Forscher. Es gebe "Analogien in der neuronalen Organisation und Funktion, genetischen Grundlagen und physikalischen Mechanismen der Klangproduktion".

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Technisch gesehen war die Übersetzung von Mustern neuronaler Aktivität in Klangmuster jedoch keine leichte Aufgabe. "Es gibt einfach zu viele neuronale Muster und zu viele Klangmuster, als dass man eine einzige Lösung finden könnte, die das eine Signal direkt auf das andere abbilden kann", so Gentner. Um das Problem zu lösen, verwendete das Team ein biomechanisches Modell, das die Druckschwankungen und Änderungen im Muskeltonus im Stimmorgan der Finken beschreibt – dabei verhalten sich die Membranen im Stimmorgan wie nichtlineare Oszillatoren. Die Forscher trainierten dann ihre Algorithmen, um die neuronale Aktivität direkt auf diese Repräsentationen abzubilden.

Der nächste Schritt des Teams ist es, zu zeigen, dass ihr System den Vogelgesang aus der neuronalen Aktivität in Echtzeit rekonstruieren kann. Das ist noch schwieriger, weil Singvögel auf ihren eigenen Gesang hören, und ihren Gesang ständig an das anpassen, was sie wirklich singen wollen. Eine erfolgreiche Stimmprothese werde also letztlich auf einer Zeitskala arbeiten müssen, die ähnlich schnell und komplex genug ist, um die gesamte Rückkopplungsschleife der Vögel zu berücksichtigen, einschließlich der Korrektur von Fehlern, schreiben die Forscher.

(wst [6])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6114845

Links in diesem Artikel:
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/HVC_(avian_brain_region)
[2] https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(21)00733-8?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0960982221007338%3Fshowall%3Dtrue
[3] https://www.heise.de/select/tr/2018/8/1532937892405441
[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10202549/
[5] https://www.heise.de/tr/
[6] mailto:wst@technology-review.de