EU-Parlament stimmt gegen Internetsperren bei Urheberrechtsverletzungen
Überraschend haben sich die EU-Abgeordneten gegen den Kompromiss mit dem EU-Rat zum Kappen von Netzzugängen ausgesprochen und für eine klare Richterentscheidung gestimmt. Abgeordnete sprachen von einem "überwältigenden Sieg für die Bürgerrechte".
Das EU-Parlament hat sich in seiner Plenarsitzung in Straßburg am heutigen Mittwoch überraschend gegen den umstrittenen Kompromiss mit dem EU-Rat zu Internetsperren bei wiederholten Rechtsverletzungen ausgesprochen. Bei der Abstimmung im Rahmen der 2. Lesung des EU-Telecom-Pakets votierte eine Mehrheit von 407 Abgeordneten auf Antrag der Oppositionsfraktionen für die Fassung aus der 1. Lesung . Demnach sollen Eingriffe in die Grundrechte der Nutzer nur nach einer Gerichtsentscheidung verhängt werden dürfen. Das Ergebnis ist erneut ein klares Signal vor allem gegen den Vorstoß der französischen Regierung, ein Verfahren zur "abgestuften Erwiderung" auf Copyright-Verstöße gemäß dem "3 Strikes"-Ansatz gesetzlich zu verankern.
Aufgrund der Ablehnung des mit den Mitgliedsstaaten ausgehandelten Kompromisses muss das gesamte Paket zur Neufassung der Regulierung des Telekommunikationsmarktes nun noch einmal mit dem Rat in einem Vermittlungsverfahren besprochen werden. Eine einfache Befürwortung des Ergebnisses der 2. Lesung durch das Ministergremium ist nicht zu erwarten, sodass es zu komplizierten Nachverhandlungen kommen dürfte. Da das Parlament Anfang Juni neu gewählt wird, können diese wohl erst nach der Neukonstituierung der Volksvertreter im Herbst starten.
Der Abstimmung war eine kurze, aber turbulente Debatte über Verfahrensfragen vorausgegangen. Rebecca Harms, stellvertretende Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament, hatte eine Änderung der Wahlliste beantragt. Zur Begründung führte sie an, dass nicht zuerst der "bedenkliche" Kompromissantrag aufgerufen werden dürfe, da mit diesem die Grundrechte der Nutzer zu stark einschränkt werden könnten. Die Fraktion der Liberalen befürwortete das Begehr der Grünen und gab zugleich bekannt, sich von dem Kompromiss komplett zurückzuziehen. Es gehe um das Recht auf Teilhabe an der Informationsgesellschaft. "Es ist für uns nicht denkbar, dass Internetprovider ohne richterlichen Beschluss den Netzzugang von Bürgern sperren können. Urheberrechtliche Verstöße müssen von Gerichten geahndet werden und dürfen nicht im Wege digitaler Selbstjustiz verfolgt werden", sagte der FDP-Parlamentarier Alexander Alvaro. Die für die entsprechende Rahmenrichtlinie zuständige Berichterstatterin und Verhandlungsführerin, die französische Sozialistin Catherine Trautmann, und die konservative Schattenberichterstatterin Angelika Niebler sprachen sich dagegen für die Beibehaltung der Abstimmungsreihenfolge aus. Eine Begrenzung der Nutzerrechte stehe nicht zur Disposition.
Stein des Anstoßes war eine Verwässerung der bisherigen Linie des Parlaments in der Kompromissklausel. Statt den Justizbehörden sollte demnach nur noch ein "unabhängiges und unparteiisches Tribunal" über die Grundrechte der Nutzer etwa auf Privatsphäre sowie Informations- und Meinungsfreiheit achten. Vielen Abgeordneten schien es angesichts dieser schwammigen Formulierung unklar, ob sie sich auch auf die französische Verwaltungsbehörde HADOPI (Haute Autorité pour la Diffusion des Oeuvres et la Protection des Droits sur l'Internet) beziehen könnte, die nach mehrmaligen Warnungen über das Kappen von Netzzugängen bei wiederholten Urheberrechtsverstößen entscheiden soll. Harms sprach nach dem Votum gegenüber heise online von einem "überwältigenden Sieg für die Bürgerrechte".
Weiterer Knackpunkt bis zum Schluss waren Vorschriften zur Einhaltung der Netzneutralität. Mit diesem Prinzip soll eigentlich die unterschiedslose Übermittlung von Daten übers Internet sichergestellt werden. Angaben, woher Informationen stammen oder welche Anwendungen Datenpakete erzeugt hat, spielen dabei keine Rolle. Die Linie der Abgeordneten aus der 1. Lesung, wonach "der Zugang der Nutzer zu bestimmten Arten von Inhalten oder Anwendungen nicht in unzumutbarer Weise beschränkt" werden sollte, hat die mit dem Rat ausgehandelte und vom Parlament in 2. Lesung angenommene Variante nun aber schier ins Gegenteil verkehrt. Demnach müssen Anbieter die Nutzer nur noch über eingesetzte Verfahren zum "Verkehrsmanagement" informieren. Vor zu starken Begrenzungen einzelner Applikationen wie zum Beispiel Filesharing oder Internet-Telefonie soll vor allem der Markt die Verbraucher bewahren. Zudem können die nationalen Regulierer Mindestanforderungen an die zu erbringende Dienstequalität aufstellen. Die Abgeordneten lehnten zudem dieses Mal eine Bestimmung ab, wonach Zugangsanbieter die Verbreitung "rechtsmäßiger Inhalte" fördern sollten. Bürgerrechtler und Oppositionsparteien fürchten trotzdem um die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte der Nutzer auch in diesem Sektor.
Der Berichterstatter für die Zugangsrichtlinie, der britische Konservative Malcom Harbour, hat die Entscheidung verteidigt: Auf EU-Ebene könne der Gesetzgeber nur verlangen, "dass die Nutzer von den Internet-Providern darüber informiert werden, welche Websites ihnen weshalb vorenthalten werden". Zugangsbeschränkungen würden zudem generell in die Zuständigkeit der nationalen Regierungen und Behörden fallen.
Zum Status des EU-Telecom-Pakets siehe auch:
(Stefan Krempl) / (jk)