Wer wird Millionär? -- bei der Poincaré-Vermutung

Zum Jahresende haben die Wissenschaftsredaktionen noch mal das abgelaufene Jahr Revue passieren lassen, und dabei kam der möglicherweise bedeutendste mathematische Beweis der letzten Zeit wieder erneut auf die Tagesordnung.

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Von
  • Andreas Stiller

Zum Jahresende haben die Wissenschaftsredaktionen noch mal das abgelaufene Jahr Revue passieren lassen, und dabei kam der möglicherweise bedeutendste mathematische Beweis der letzten Zeit wieder erneut auf die Tagesordnung: Der Beweis der Poincaré-Vermutung durch den russischen Mathematiker Grigory ("Grisha") Perelman. Dass das keine Allerweltsfrage ist, zeigt allein die Prämie, die das Clay Mathematics Institute für den Beweis ausgelobt hat: eine Million US-Dollar!

Der berühmte französische Mathematiker Jules Henri Poincaré hat die Vermutung 1904 als Frage in den Raum gestellt: "Betrachten wir eine kompakte dreidimensionale Mannigfaltigkeit V. Ist es möglich, dass die Fundamentalgruppe von V nur aus der Identität besteht, obwohl V nicht homöomorph zur 3-Sphäre ist?" Etwas allgemeinverständlicher drückt die Fragestellung beispielsweise die Zeit-Autorin Annette Leßmöllmann in ihrem Artikel Mathe mit Lasso aus. Auf einer Kugeloberfläche kann man überall eine beliebige Schlinge ablegen und dann zuziehen, ohne dass sich Schlinge und Kugel irgendwie ins Gehege kommen und ohne die Kugeloberfläche zu verlassen: die Schlinge lässt sich immer zu einem Punkt zusammenziehen. Außerdem lässt sich jede beliebige elastische Schlinge von der Kugel entfernen.

Bei einem Ring gilt das indes nicht, dann nämlich wenn die Schlinge den Ring umschließt. Dann lässt sie sich weder beliebig zusammenziehen noch vom Ring trennen (wiewohl David Copperfield und Co. uns laufend das Gegenteil "beweisen"). Schon lange vor Poincaré konnten nun Mathematiker für beliebige Flächen im dreidimensionalem Raum beweisen: wenn sich jede beliebige Schlinge zuziehen lässt, dann ist sie homöomorph zur Kugel. In diesem topologischen Sinne verhält sich dann ein Kaffeebecher ohne Henkel genauso wie eine Kugel, er ist also zur Kugel "homöomorph", wohingegen ein Henkel ihn völlig "unkugelig" macht -- nämlich zum Torus. Ok, Praktiker wissen, dass es wichtige Unterschiede zwischen Kaffebechern und Kugeln gibt: Versuchen Sie mal, Kaffee in eine Kugel zu gießen ...

Topologen sind ohnehin merkwürdige Leute, die nur die Oberflächen von Objekten betrachten und so eine Dimension unterhalb von Geometern (und Normalbürgern) bleiben. Für sie ist die Oberfläche einer normalen dreidimensionalen Kugel nur eine "2-Sphäre" und die Oberfläche eines dreidimensionalen Körpers eine kompakte zweidimensionale Mannigfaltigkeit. Poincaré dehnte nun in seiner Vermutung obige Aussage auf die nächsthöhere Dimension aus ("dreidimensionale Mannigfaligkeit"), mit der Homöomorphie zur 3-Sphäre. (Das ist die kuglige Kollegin des vierdimensionalen Würfels Tesseract, nur ohne einen so schönen Namen.) Interessanterweise konnten Mathematiker inzwischen für alle noch höheren Dimensionen, die ja eigentlich komplexer erscheinen, die verallgemeinerte Poincaré-Vermutung beweisen, zuletzt 1982 M. H. Freedman für die 4-Sphäre. Dafür erhielt er 1986 die bei Mathematikern begehrteste Auszeichnung, die Fields-Medaille -- aber eben nicht die Million-Dollar-Prämie. Die gibts nur für die bislang immer noch als ungelöst geltende 3-Sphäre (und außerdem wurde sie erst im Jahr 2000 ausgelobt).

Grisha Perelman vom Steklov Institute of Mathematics in St. Petersburg reklamiert nun, die Lösung gefunden zu haben. Er veröffentlichte bislang drei Fachartikel zum Themenkreis, zuerst im November 2002 (The entropy formula for the Ricci flow and its geometric applications), und dann weitere im April und Juli 2003. Vor allem der zweite mischte im April letzten Jahres die Fachwelt mächtig auf. Aus den genannten Artikeln soll -- wenn auch nur für tiefgründig mathematisch-topologisch "Eingeweihte" -- der Beweis der berühmten Vermutung hervorgehen, und zwar als Spezialfall einer allgemeineren Thurston-Vermutung. Perelman hatte seine Arbeit außerdem in Vorträgen an amerikanischen Universitäten, etwa am MIT oder an der Stony Brook University vorgetragen, wovon es auch Mitschriften gibt.

Mathematiker diskutieren seitdem Perelmans Ausführungen und haben spezielle Diskussionsforen und Websites beispielsweise an der Universität Michigan zu dem Thema eingerichtet. Anders jedoch als bei zahlreichen früheren Beweisversuchen ist es bislang nicht gelungen, Fehler in Perelmans Beweisführung aufzuzeigen, sodass er mit großen Schritten auf mathematischen Ruhm und die lukrative Prämie zusteuert. Perelmans Beweis baut allerdings auf Vorarbeiten von Richard Hamilton und anderen auf, sodass man sehen muss, ob und wie die Prämie gegebenenfalls aufgeteilt wird. Richard Hamilton -- nein nicht der berühmte Pop-Art-Künstler, sondern der Mathematik-Professor an der California-Universität Irvine -- hat erst kürzlich vom Clay Institute den Clay Research Award erhalten (keine Geldprämie, aber immerhin eine achtknotige Bronze-Skulptur).

Das Clay Mathematics Institute in Cambridge/MA ist eine Art Familienunternehmen rund um den amerikanischen Geschäftsmann Landon T. Clay, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Schönheit, Kraft und Universalität von mathematischen Gedanken aufzuzeigen. Neben der Prämie für den Beweis der Poincaré-Vermutung gibts es noch sechs weitere Möglichkeiten, eine Million Dollar vom Clay Institute einzuheimsen. Man muss nur mal eben solche Kleinigkeiten wie die Riemannsche Vermutung beweisen oder die Navier-Stokes-Gleichungen lösen oder die Hamletsche Frage "P oder nicht P?" endgültig klären, beispielsweise, wenn man Microsofts Minesweeper richtig beherrscht ... (as/ct) (bo)