1984 + 30: "Die Realität ist tausendfach schrecklicher"

Die Dystopie von "1984" sei teilweise Realität geworden, alarmierte eine Gruppe von Journalisten die bundesdeutsche Öffentlichkeit – vor 30 Jahren. Zwei der Autoren schauen zurück und mit dem Blick von damals auf die Welt im Jahr 2014.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 224 Kommentare lesen
1984 + 30: "Die Realität ist tausendfach schrecklicher und bedrohlicher"

(Bild: banksy.co.uk)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Stefan Mey

Auch wenn 2014 nun endgültig hinter uns liegt, steht ein Jahresrückblick noch aus: Im Jahr 1983 hatte sechs SPIEGEL-Autoren ein besorgtes Buch geschrieben: "Der Orwell-Staat 1984 – Vision und Wirklichkeit." Sie wollten die damalige Realität mit den Horror-Visionen von George Orwell abgleichen. Der hatte in seinem Roman 1984 einen totalitären Staat beschrieben, in dem der "Große Bruder" seine Bürger lückenlos überwacht.

Vor 30 Jahren warnten besorgte Journalisten vor Orwells Dystopien.

(Bild: Buchcover)

Die Autoren fanden genügend Parallelen zur Wirklichkeit. Im Vorwort zum Buch hieß es, dass "von Orwells Visionen manches in Ansätzen längst vorhanden, oft schon erprobt, öfter noch von der Wirklichkeit überholt worden ist." 30 Jahre nach dem magischen Jahr 1984, in den Zeiten von NSA & Co., wirkt die Diagnose fast schon drollig.

Niemand sei vor der Überwachungstechnik sicher, hatte der Spiegel-Redakteur und Herausgeber des Buchs Werner Meyer-Larsen im Jahr 1983 angemahnt. Es gab schon Kohlemikrophone, deren Sensoren Betonwände durchdringen, "computergerechte Personalausweise" und "fälschungssichere Autokennzeichen", die Bewegungen von Menschen kontrollierbar machen. Auch der heimische Fernseher bereitete ihm Sorgen: "Glasfaserverkabeltes Fernsehen ist keine Einbahnstraße. Der große Bruder kann den Rückwärtsgang einschalten und so Kaufmotive, Fernsehgewohnheiten, ja schließlich politische Meinungen jeder Person herausfinden."

Man hatte damals ziemlich kalte Füße gehabt und Angst vor dem Überwachungsstaat, sagt Werner Meyer-Larsen, heute im Ruhestand, rückblickend. Die Welt 30 Jahre später sieht er überraschend entspannt: "Die Gefahrenlage von damals würde ich heute nicht mehr sehen. Wir sind der Orwell-Vision heute weniger nah als damals." Der Grund: Orwells Dystopie stand für ihn vor allem für den kommunistischen Teil der Welt. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums habe sich die Frage erledigt, welches System sich durchsetzt. Viele Staaten seien offener gegenüber dem freiheitlichen Modell des Westens geworden.

Natürlich habe sich die Technik verfeinert, und jeder sei heute zu 100% durchleuchtbar. Man kann sich nicht dagegen wehren. Allerdings fragt er sich, ob man sich in den liberaleren Gesellschaften überhaupt wehren müsse, wenn man sich nichts zu Schulden kommen lässt. Dass viele in den USA ein Schreckgespenst sehen, hält er für übertrieben. Gewiss führe eine Demokratie mit der Überwachung durch Geheimdienste wie der NSA ein Doppelleben. Es gebe da wohl oder übel eine demokratische Lücke: "Die lässt sich aber nicht beseitigen, da der Staat bestimmte Gruppen und Personen auch überwachen muss, um zu funktionieren."

Sein damaliger Co-Autor Hans-Wolfang Sternsdorff will die Dystopie von "1984" nicht auf den Kommunismus beschränkt sehen. Die staatliche Kontrolle des Einzelnen habe sich bis in jedes System eingefressen, ob Ost oder West.

Im Buch hatte Sternsdorff den Aufbau einer umfassenden Überwachungs-Infrastruktur durch das Bundeskriminalamt beschrieben, sein Kapitel war auf einen längeren SPIEGEL-Artikel zurückgegangen. Ursprünglich zur Abwehr eines konkreten Anschlags aufgebaut, kam die neue Technik auch in vielen anderen Fällen zum Einsatz. Demonstranten wurden überwacht, Mitglieder von Wohngemeinschaften oder schlicht Passanten in Bahnhofspassagen. Sternsdorffs Erkenntnisse stammten von einem Whistleblower, einer Art deutschem Edward Snowden. Dem jungen Entwicklungs-Ingenieur beim BKA war irgendwann klar geworden, woran er da eigentlich arbeitet.

Im Jahr 2014 sei Orwell längt passé, sagt Sternsdorff, damals SPIEGEL-Redakteur und heute noch in fortgeschrittenem Alter als Anwalt tätig. Er meint das aber gänzlich anders als sein ehemaliger Kollege Meyer-Larsen: "Die Realität in unserer westlichen Welt ist tausendfach schrecklicher und bedrohlicher, als es die Vision von Orwell aus 1984 je gewesen war." Die Privatsphäre sei weitgehend abgeschafft, jeder Persönlichkeitsbereich einsehbar, und niemand könne sich dagegen wirksam schützen. "Denken Sie nur an die Facebook-Kontakte, alle die millionenfach gesendeten E-Mails, an die E-Books, anhand derer man feststellen kann, wer was liest." Vor allem das Handy sei ein Verfolgungs- und Überwachungsgerät par excellence geworden.

Am meisten stört ihn, dass die westlichen Gesellschaften weitgehend abgestumpft oder ignorant seien. Die bundesdeutsche Entwicklung hatte sich trotz seiner Recherchen vor 30 Jahren wie befürchtet fortgesetzt. Und auch die epochalen Enthüllungen von Edward Snowden hätten nicht viel hervorgebracht, bedauert Sternsdorff im Jahr 2014: "Ein paar Diskussionen von Intellektuellen, aber jedenfalls keine bürgerliche Revolution für die Erhaltung von Menschenrechten und den Schutz der Privatsphäre" (mho)