Was war. Was wird.
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht? Hal Faber plädiert für eine langsame Gangart, die möglicherweise das Lernen erlaubt.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Was ist Geschichte? Wozu und zu welchem Ende treiben wir sie, wenn nicht zum Ende aller Geschichten? Dann bleiben nur noch Worte. Oder Wörter? In der letzten Woche ist das Wort "virtuell" schwer belagert worden. Die virtuelle Realität, sie erscheint uns so modern, daher haben etliche Geister posthum den großen Journalisten Sebastian Haffner angegriffen. In seinem 1939 im Exil verfassten Fragment "Geschichte eines Deutschen" findet sich der Ausdruck virtuell – und damit der Hinweis auf eine Fälschung, so die Geisterfahrer, denen der kritische Blick auf Nazi-Deutschland nicht passt. Nun ist das Wort virtuell bereits 1871 aus dem Französischen zu uns gewandert, hat sich im Zuge der Pariser Kommune und der Gründung des deutschen Reiches in den Konversationslexika eingenistet, genau wie die Boheme und die Bourgeoisie, die den Grundstock unseres Bobos bilden. Haffner konnte 1939 also virtuell benutzen. Vielleicht so, wie im Heise-Ticker das Wort Bücherverbrennung benutzt wurde. Zeigt es in die Geschichte, auf das Abfackeln der alexandrinischen Bibliothek, oder auf das völkische Büchergemetzel in unserer Geschichte der Deutschen? Auch hinter MMB, dem Microsoft Manual Burn der HAL2001, verbirgt sich das Wort Bücherverbrennung. Ein heftiger Streit im Heise-Forum, auch in der ehemaligen Arena des [nntp://de.org.ccc CCC] zeugt davon, dass die Geschichte keineswegs vergangen ist, dass Worte zündeln können. Was bleibt, ist die Suche nach den richtigen Worten im allgemeinen Gebrabbel, wenn etwa allgemein beschriebene Symptome sich zum "Gulf War Disease" verdichten. So wird vielleicht dereinst auch diese Bücherverbrennung wieder auftauchen, als Zeitzeichen einer neuen Hackerkultur, die leider keine Abweichungen mehr zu ertragen vermochte. Aber das mag in einer fernen Zukunft liegen, in der Bill Gates nur noch als größter Kunstsammler Amerikas bekannt sein wird, der in Las Vegas das größte Museum der Welt bauen ließ.
*** Was ist Geschichte, fragt sich also unser Bobo und jettet nach Vegas, eben diese zu bestaunen. Der Bobo ist lustig, der Bobo macht froh, nicht nur unsere Kinder, nein, die Erwachs'nen ebenso? Nicht einmal als missglückter Werbeslogan der New Economy mag unsere "Bohemian Bourgeoisie" noch herhalten, nachdem Jacob Heilbrunn von der Los Angeles Times nicht mit dem Bobo, sondern den hinter ihm stehenden realen Personen abgerechnet hat: "Auch in den Köpfen der Menschen fordert der Reichtum seinen Tribut, hat er doch einige besonders heuchlerische, widerwärtige Erscheinungen hervorgebracht, jene Gestalten, für die der konservative Journalist David Brooks den Namen 'bourgeoise Bohemiens' geprägt hat." Die US-Amerikaner mit dicken Geländewagen, die ab 20 Grad Außentemperatur die Klimaanlage anwerfen, aber Umweltschutz und Wassersparprogramme für ihre von Arbeitsmigranten abgeschotteten, militärisch gesicherten Nobelquartiere reklamieren, sind jedoch wohl nicht viel besser als die gut betuchten deutschen Protagonisten der neueren und neusten Wirtschaft, die über die Globalisierung jammern, das Rindfleich nur beim Öko-Bauern kaufen, aber die Designer-Jeans in China nähen, die Software in Indien programmieren und die Handys in Usbekistan zusammenbauen lassen, damit sie drei Mal im Jahr auf die Malediven düsen können. Die Bobos sind lange schon nicht mehr die Witzfiguren, als die sie nie gemeint waren. Im Magazin der Süddeutschen segelt die Kritik von Heilbrunn übrigens unter dem Oberthema "Renaissance des Anti-Amerikanismus". Das hat Heilbrunn nicht verdient, denn dies wäre geschichtslos, oder eine Farce, wie sich Geschichte eben nur wiederholt. Rassismus war noch nie eine gute Idee, wer auch immer die Ausgegrenzten waren, ebenso wenig wie Nationalismus, auch wenn er sich mit den Labels von gutem Wein und anständigem Käse schmückt. Die Nazis waren auch Anti-Amerikaner und predigten die nationale Selbstversorgung.
*** Was aber ist Geschichte wirklich, wenn nicht eine einzige, lange Erzählung von Situationen? Am 18. und 19. August 1991 luden Firmen wie AT&T, Interactive und SCO europäische Journalisten nach London ein. In einem edlen Hotel gleich in der Nähe des Flughafens sollte die Zukunft von Unix nach der großen Vereinheitlung (System V Release 3.2ff) diskutiert werden. Für die Veranstalter war das Ganze ein großer Flop: Statt über Vor- und Nachteile eines einzigen Unix zu diskutieren, wurde der Fernseher angeschaltet. Im fernen Moskau gab es einen Putsch altlinientreuer Generäle und wir schauten in die Glotze. Der triumphierende Boris Jelzin, der da über die Panzer kletterte, rettete die Perestroijka, so erschien es uns damals. Heute wissen wir, dass sich Zar Boris installierte und sich Russland vom Westen ein Stück weit verabschiedete. Immerhin: Ein Redner der damaligen Konferenz brachte das Kunststück fertig, die Nachteile eines vereinheitlichten Unix mit dem Zwangskorsett der verfallenden Sowjetunion zu vergleichen. Sowas hat Tradition, seitdem Digital-Chef Pallmer Unix als russischen Lastwagen bespöttelte, der niemals vernünftig fahren könnte.
*** Aber was ist Geschichte, wenn nicht überraschende Wendungen? In jenem August, als die russischen Panzer im Fernsehen auftauchten, kostete die billigste brauchbare (das heißt mit Entwicklungstools ausgestattete) Unix-Variante 3784 Mark in der Einzelplatzversion. Nur bei IBM gab es für 2000 Mark weniger ein Schnäppchen namens AIX, das jedoch zwingend einen PS/2-Rechner vorschrieb. Das sollte man aus der Geschichte wissen, wenn man angesichts aller Vereinheitlichungen an ein weiteres wichtiges Datum erinnert, den 25. August 1991. Damals tauchte im Usenet in comp.os.minix eine Nachricht aus Finnland auf, die sich nicht mit russischen Panzern und Lastwagen beschäftigte, sondern als "Kleine Meinungsumfrage für mein neues Betriebssystem" deklariert war: "Hallo an alle, die dort draußen Minix verwenden - ich arbeite an einem (frei zugänglichen) Betriebssystem (nur so als Hobby, wird nicht groß und professionell wie GNU sein) für 386er (486er) AT-Kompatible." Genau 23 Tage nach diesem Posting war Linux 0.01 fertig, bescheidene 10.000 Zeilen lang, wie der Autor der kleinen Meinungsumfrage einmal bemerkte. Zur Geschichte und zum allgemeinen Vergessen gehört es, dass diese Meinungsumfrage ein Dutzend Dickköpfe interessierte, die das System zum Laufen bringen wollten. Gegen alle Widerstände wurde Linux hochgepäppelt. Dabei begeisterten sich Menschen für die Idee der Open Source, die sie dem ranzigen Edelhippie Richard Stallmann niemals abgenommen hätten.
*** Und was ist Geschichte, wenn sie zur Erfolgsstory wird? Zur Vergeblichkeit verdammt, möglicherweise. Heute jedenfalls ist Linux das Vorzeigestück der Szene – und doch nur ihr Gesellenstück, meint der Jini-Spezialist Richard P. Gabriel. Verglichen mit echten Großprojekten der Open Source wie dem Oxford Englisch Dictionary sei das Gebastel an Linux oder Apache noch eine Insider-Arbeit. 70 Jahre brauchte das Lexikonprojekt, das mit einer anderen Verbrennung am Guy Fawkes Day 1857 gestartet wurde. 6 Millionen Einsendungen interessierter Zeitgenossen wurden bearbeitet und verdichtet: Der Mob, ein großer unkontrollierter Menschenschwarm, produzierte ein Werk, das in 20 Bänden erschien. Dieses Schema gilt es auf die Softwareproduktion zu übertragen: Der Mob-Software, an der Hunderttausende mitwirken, gesteuert von den einfachen Prinzipien eines Fischschwarms, wird die Zukunft gehören. Und Linux nur noch Geschichte sein. Den Triumph des Mobs kann nicht einmal Microsoft aufhalten.
Was wird.
Wo bleibt das Positive? Natürlich liegt dies in der Zukunft, nicht in der Geschichte, aus der eh niemand etwas lernen kann. Höchstens kann man aus vergangenen Texten dumme Running Gags abschreiben. Die Zukunft aber begann zwar schon am letzten Freitag, doch wird sie hier abgehandelt, weil es um UMTS geht und dieses UMTS ein ganz großes Dingens werden soll. "Nokia hat heute in Finnland das erste Adaptive Multi-Rate Wideband Code Division Multiple Access-Gespräch auf Basis des 3rd Generation Partnership Program, Release 99 durchgeführt." Tja, da isses passiert: Bei UMTS hats gefunkt, noch dazu zwischen verschiedenen Betreibern, Sonera und Radiolinja. Wer sich so in einer Pressemeldung ausdrücken muss, braucht ganz sicher UMTS, weil die Worte sonst quer in der Leitung stecken bleiben. Die Bandbreite ist ja nicht unendlich groß.
"Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!" – was eine längst vergessene Düsseldorfer Rockband vor Jahren propagierte, ist aber nicht etwa der neue Wahlspruch der UMTS-Lizenznehmer, sondern eher die Hoffnung einer ganzen Branche: Wenn wir schon beim 25. August 1991 verweilen, darf der aktuelle 25. natürlich nicht fehlen. An diesem Tag öffnet die Internationale Funkausstellung in Berlin ihre Pforten. Nun kann man das "Funkische" bekanntlich schlecht ausstellen, daher hat man sich in Berlin auf eine breite Definition geeinigt: Es ist eine Besuchershow für alles, was einen Einschaltknopf hat. Das "Festival der Innovationen" bringt nach Angaben der Veranstalter erstmals "Content und Convergenz auf dem Höhepunkt ihrer Evolution" zusammen. Mir wird jetzt schon ganz schwindelig. Schwindeln Sie mit! Für den besten Ein- und Ausknopf (Digitalfoto genügt) gibt es zur Belohnung, nein, nix Kolumne, sondern eine Dose von Douglas Adams' Pan-Galactic Gargle-Blaster, dem Default-Getränk der HAL2001. Die Zutaten: Ol' Janx Spirit, Santraginean Sea Water, Fallan Marsh Gas Bubbles, Arcturan Mega-Gin, Qualactin Hypermint Extract, Algolian Suntiger Teeth, Zamphuor. (Hal Faber) / (jk)