Analyse: Ohne Netzneutralität gehört das Internet den Platzhirschen

Vor einem Monat stimmte das Europaparlament für einen halbgaren Kompromiss zur Netzneutralität – mit großen Hintertüren, um sie auszuhebeln. Warum das so gefährlich ist, analysiert der Richter Ulf Buermeyer für heise online.

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Von
  • Ulf Buermeyer
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"Netzneutralität" – das Wort klingt nicht besonders attraktiv: Neutral zu sein erwarten wir zwar von Schiedsrichtern, aber "neutral" erinnert zugleich an Wischiwaschi und Beliebigkeit. Und doch ist Netzneutralität eine der zentralen Eigenschaften des Internets, wie wir es bisher kennen: ein weltumspannendes Medium und ein Raum, in dem sich innovative Dienste und Geschäftsmodelle mit faszinierend geringem Aufwand entwickeln lassen. Ein Netz, das die zu übertragenden Daten nicht neutral behandelt, wäre hingegen nicht mehr das Internet, wie wir es heute kennen.

Eine Analyse von Ulf Buermeyer

Ulf Buermeyer ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und Richter am Landgericht Berlin. Dort ist er seit 2008 u.a. in Wirtschaftsstrafsachen tätig. Daneben ist er Redakteur der Zeitschrift für höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) und bloggt gelegentlich auf netzpolitik.org.

Was aber bedeutet Netzneutralität eigentlich? Im Internet werden Daten zwischen Rechnern nicht über reservierte Leitungen zwischen Sender und Empfänger übertragen, wie man es etwa aus dem klassischen Telefonnetz kennt. Vielmehr teilen sich Datenpakete zwischen verschiedenen Absendern und Empfängern gemeinsame Leitungswege: Alle "Verbindungen" sind rein virtuell. Das funktioniert wunderbar, solange die Leitungen schnell genug für alle Daten sind.

Probleme treten aber auf, wenn sich Pakete zum Beispiel in einem Router stauen: Zunächst werden sie für eine kurze Zeit in einer Warteschlange geparkt, ehe sie mit Verzögerung weitergeleitet werden können oder irgendwann weggeworfen werden müssen. Traditionell entscheiden die Router einfach danach, wann ein Paket angekommen ist, wann sie es weiterleiten: Es gilt das Prinzip "wer zuerst kommt, mahlt zuerst" ("first in, first out" oder auch FIFO). Die Router verhalten sich also den Daten gegenüber neutral und versuchen, sie so gut sie eben können weiterzuleiten (das sogenannte "best effort"-Prinzip.

Gegen diese absolute Netzneutralität verstoßen die Betreiber von Internet-Leitungen (Carrier), indem sie bestimmte Daten-Pakete bevorzugt weiterleiten. So können sie etwa Pakete nach technischen Kriterien bevorzugen: Bei manchen Anwendungen können schon kurze Aussetzer ziemlich stören, während es bei einer E-Mail kaum einen Unterschied macht, ob sie wenige Sekunden später ankommt. Priorisieren Carrier solchen besonders sensiblen Traffic, verstoßen sie zwar streng genommen auch gegen die Netzneutralität. Doch rein technische, nicht nach Absender oder Empfänger differenzierende Eingriffe verbessern die Service-Qualität des Internet insgesamt, sodass sie vielen Beobachtern als legitim gelten.

Wirklich problematisch sind hingegen Verstöße gegen die Netzneutralität, die aus wirtschaftlichen Gründen vorgenommen werden: Wenn Carrier sich dafür bezahlen lassen, bestimmten Datenverkehr zu bevorzugen, richten sie bildhaft gesprochen Überholspuren im Netz ein, für die sie Maut kassieren. Diese Art von Verstößen gegen den freien Datenverkehr nach dem "best-effort"-Prinzip sind in vielerlei Hinsicht gefährlich:

So führen Überholspuren zwangsläufig dazu, dass der übrige Datenverkehr weniger schnell weitergeleitet werden kann. Wer sich Überholspuren leisten kann, bietet also schnellere Internet-Services – ein Vorteil für große Internet-Konzerne, die die Maut relativ leicht zahlen können, aber eine hohe Barriere für Startups, die mit dünner Finanzdecke erst noch versuchen müssen, sich am Markt zu etablieren. Eine ähnliche Wirkung entfaltet auch das vor allem im Mobilfunk verbreitete "zero rating", bei dem bestimmter Datenverkehr nicht auf das Inklusiv-Datenvolumen angerechnet wird: Auch dies führt zu einer Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Anbieter, deren Daten die Kunden gefühlt "gratis" herunterladen können.

Netzneutralität

Netzneutralität bedeutet, dass Inhalte im Internet gleichberechtigt ihren Weg finden. Vor allem Provider und Carrier wollen aber beispielsweise für Videos extra zu bezahlende Überholspuren einbauen. Für User entstünde ohne Netzneutralität ein Zweiklassen-Internet.

Außerdem führen bezahlte Verstöße gegen die Netzneutralität auch zu Verzerrungen auf dem Markt der Anbieter von Internet-Zugängen: Große Provider, in Deutschland etwa die Telekom, können Anbieter von datenintensiven Diensten (beispielsweise Video-Streaming-Anbieter wie Netflix) de facto zwingen, für eine ausreichend schnelle Durchleitung ihrer Daten zu zahlen. Kleinere Provider, etwa örtliche Stadtwerke, haben diese Marktmacht hingegen nicht. Die Zwangsabgaben der Inhalte-Anbieter führen nun dazu, dass große Provider sich ein und dieselbe Leistung – nämlich den Internet-Anschluss ihrer Endkunden – letztlich doppelt bezahlen lassen: von ihren Kunden und zugleich von den Inhalte-Anbietern. Dieses doppelte Abkassieren ermöglicht es wiederum den großen Providern, ihre Internet-Zugänge "quer" zu subventionieren, und verschafft ihnen so erhebliche Vorteile im Kampf um Marktanteile gegenüber Endkunden.

Wenn Carrier Datenpakete nicht "neutral" behandeln, sondern Überholspuren gegen Geld einrichten, folgen daraus also erhebliche Nachteile für das Internet insgesamt: Netzneutralitäts-Verstöße machen das Internet zu einer großen Party für Platzhirsche und errichten massive Markteintritts-Barrieren für neue Anbieter – sowohl auf Seiten der Anbieter von Diensten im Internet als auch von Internet-Zugängen für Firmen, Verbraucherinnen und Verbraucher.

Wie kann es also sein, dass die jüngst vom Europäischen Parlament verabschiedete Regulierung der Netzneutralität solche Lücken aufweist, sie Verstöße nicht etwa verbietet, sondern unter dem Stichwort der "Spezialdienste" geradezu dazu einlädt? Die Antwort findet sich hier oben: Je weniger Netzneutralität, desto besser für die großen Player – sowohl auf Seiten der Inhalte-Anbieter als auch auf Seiten der Provider. Und dies sind genau diejenigen Akteure, die nahezu unbegrenzte Mittel haben, sich in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten über Lobbyisten Gehör zu verschaffen. Kleine Startups und vor allem die "einfachen Leute" in Europa sind demgegenüber kaum in der Lage, auf die politischen Abläufe Einfluss zu nehmen.

Die fehlgeschlagene Rettung der Netzneutralität auf EU-Ebene verweist damit zugleich auf ein grundlegendes Demokratie-Defizit: Die Interessen der "Netizens" sind im politischen System viel zu wenig repräsentiert, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Die Parlamentarier, eigentlich ja als Volksvertreter gewählt, sind im Trommelfeuer der Lobbyisten oftmals nicht in der Lage, das Wohl der Allgemeinheit im Blick zu behalten, einfach weil es ihnen gegenüber kaum jemand vertritt – wenn sie nicht ohnehin wie etwa Kommissar Günther Oettinger dazu neigen, Partikular-Interessen einiger weniger Unternehmen mit dem Allgemeinwohl zu verwechseln.

Das Ende der Netzneutralität in Europa sollte daher als Warnschuss verstanden werden. Gerade Abgeordnete müssen sich zukünftig systematisch darum bemühen, Vertreterinnen und Vertreter des Gemeinwohls – etwa NGOs wie Digitale Gesellschaft e.V. in Deutschland und European Digital Rights (EDRI) in Brüssel – anzuhören und ihre Argumente viel ernster zu nehmen als bisher. Nicht etwa besonders schmackhafte Schnittchen oder die Zahl der Hinterzimmer-Gespräche sollten zukünftig den Ausschlag geben, sondern das bessere Argument. (mho)