Im Bauch des Ungeheuers: Der UnglĂĽcksreaktor von Tschernobyl und sein langer Schatten
Der deutsche Fotograf Gerd Ludwig war dort, wo 1986 die Katastrophe ihren Lauf nahm: Im Kontrollraum des Reaktors Nr. 4 und im havarierten Reaktor selbst. Sein Fotoprojekt illustriert eindrĂĽcklich die Folgen des UnglĂĽcks bis zum heutigen Tag.
- Sascha Steinhoff
Für sein Fotoprojekt Der lange Schatten von Tschernobyl ist Gerd Ludwig insgesamt neunmal in das Sperrgebiet von Tschernobyl gereist. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hat der mit dem Erich-Salomon-Preis ausgezeichnete Fotograf die Folgen des Reaktorunglücks für die Region und ihre Bewohner dokumentiert. Dabei hat er kein persönliches Risiko gescheut und ist bis in den Unglücksreaktor Nr. 4 vorgedrungen. Gerd Ludwig war als einer von wenigen an dem Ort, wo im April 1986 ein überforderter Schichtleiter und seine Kollegen den instabilen Zustand des Reaktors zuerst nicht erkannten und dann mit völlig untauglichen Mitteln gegensteuerten. Das furchtbare Ende dieser Verkettung von Bedienfehlern, dem bewussten Missachten von Sicherheitsvorschriften und fehleranfälligem Reaktordesign ist bekannt.
Ein Hinweis: Auch in deutschen Atomkraftwerken sind Fälle bekannt, wo in schwerwiegender Weise gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen wurde.
Schon im Jahr 2005 waren Reparaturarbeiten an dem ursprünglich für die Ewigkeit gebauten ersten Sarkophag in Tschernobyl nötig, um einem Einsturz vorzubeugen. Dafür mussten Arbeiter Löcher für riesige Stahlmasten in den Boden fräsen. Die Stahlmasten sollten das gesamte Konstrukt so weit stabilisieren, dass ein Einsturz ausgeschlossen war. Gerd Ludwig konnte sich bei der Gelegenheit einem Trupp Arbeiter anschließen, so gelang ihm der Zutritt zum Reaktor. Gerade einmal fünfzehn Minuten durften er und seine Begleiter sich pro Tag dort aufhalten. Auch Jahrzehnte nach dem Unglück ist die Strahlung immer noch extrem gesundheitsgefährend.
Gerd Ludwig: Der lange Schatten von Tschernobyl (12 Bilder)
Wesnowa, WeiĂźrussland, 2005
(Bild: Gerd Ludwig)
Wie er seinen Ausflug in den Reaktor empfunden hat, beschreibt Ludwig folgendermaĂźen:
Es war die größte fotografische Herausforderung, die ich jemals erlebt habe. Die Umgebung war dunkel, laut und verursachte Angst und Beklemmung; wir eilten durch spärlich beleuchtete Tunnel, übersät mit Kabeln, zerfetzten Metallteilen und undefinierbarem Schutt. Ich bemühte mich, nicht zu stolpern. Während ich fotografierte, musste ich dem radioaktiv verseuchten Staub und den Funkenregen ausweichen, die beim Fräsen entstanden. Der Adrenalinschub war unglaublich, denn ich wusste, das ich weniger als 15 Minuten Zeit hatte, um eindringliche Bilder in einem Bereich zu machen, den nur wenige jemals gesehen haben und zu dem ich wohl nie wieder Zugang haben würde.
Noch angespannter wurde die Situation dadurch, dass nach der Hälfte der erlaubten Zeit alle unsere Geigerzähler und Dosimeter zu piepen begannen. Ein unheimliches kakofonisches Konzert, das uns signalisierte, dass unsere Zeit ablief. Hin- und hergerissen zwischen meinem Überlebensinstinkt und meinem Drang als Fotograf, länger zu bleiben, war es eine immense Herausforderung, konzentriert, effizient und schnell zu arbeiten, ohne in Hektik zu verfallen.
Seine Fotos hat Gerd Ludwig in einem Bildband verarbeitet. Der Bildband Der lange Schatten von Tschernobyl ist bei der Edition Lammerhuber erschienen und kostet 75 Euro. Für Mobilgeräte gibt es eine englischsprachige App, sie kostet umgerechnet 6 Euro.
Als Covermotiv hat der Fotograf sich fĂĽr die Nachricht entschieden, mit dem die amtliche Nachrichtenagentur TASS am 28. April 1986, also zwei Tage nach dem UnglĂĽck, den Unfall offiziell bekannt gab. Sie lautet wie folgt:
Moscow April 28 TASS - An accident has occurred at the Chernobyl atomic power plant as one of the atomic reactors was damaged. Measures are being undertaken to eliminate the consequences of the accident. Aid is being given to those affected. A Government commission has been set up.
Die Bilder von Gerd Ludwig zeigen, wie die Konsequenzen des Unglücks auch dreißig Jahre später das Leben vieler Menschen schwerwiegend beeinträchtigen. (sts)