Novellierung des Jugendmedienschutzes kippt [4. Update]
Bislang galt als sicher, dass die Neuregulierung des Jugendschutzes im Web, nämlich der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, am 1. Januar in Kraft tritt. Zuerst funkte nun die NRW-CDU dazwischen, dann erklärten auch die SPD und Grüne in NRW, sie würden den Vertrag nun ablehnen. Sie kündigten gleichzeitig eine rot-grüne Initiative für "verbesserten, aber wirkungsvollen Jugendschutz" an.
- Holger Bleich
- JĂĽrgen Kuri
Am 1. Januar 2011 soll nach dem Willen fast aller Bundesländer der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) in Kraft treten (aktueller Bericht von c't). Die umstrittene Neuregelung für den Jugendschutz im Web hat aber auch rund zwei Wochen davor noch immer nicht alle parlamentarischen Hürden genommen. Eigentlich sollte das Formsache sein, doch funkte die CDU-Fraktion des Landtags Nordrhein-Westfalen (NRW) heute eventuell folgenschwer dazwischen.
Am Nachmittag hat die CDU-Fraktion einstimmig beschlossen, gegen den JMStV zu stimmen, wie heise online aus internen Kreisen bestätigt wurde. Sollte die CDU diese Linie bei der tatsächlichen Abstimmung am 16. Dezember im Landtag beibehalten, ist wahrscheinlich, dass damit die Neuregelung des Internet-Jugendschutzes komplett kippt. Die anderen Oppositionsparteien im NRW-Landesparlament, also die FDP und die Linken, hatten bereits angekündigt, gegen den JMStV stimmen zu wollen. Und die Minderheitsregierung von SPD und Grünen ist sich nach wie vor uneins. Eine Mehrheit von CDU, FDP und Linken würde bereits genügen, um ein Nein aus NRW zum JMStV zu senden.
Formal betrachtet sind Staatsverträge Übereinkünfte der Bundesländer mit Gesetzescharakter. Änderungen wie die beim JMStV müssen zunächst von den Regierungschefs der Länder und anschließend von jedem einzelnen Länderparlament gebilligt werden. Diese Hürden hat der Änderungsstaatsvertrag im laufenden Jahr 2010 fast vollständig passiert. Am heutigen Dienstag haben die Länderparlamente von Sachsen und Bayern mehrheitlich zugestimmt. Am morgigen 15. Dezember sind die Parlamente im Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg an der Reihe. Am Donnerstag schließlich geben mit Schleswig-Holstein und NRW die letzten beiden Länder dem JMStV ihren Segen. Nur NRW steht dabei nach Expertenmeinung auf der Kippe.
Die Novellierung des JMStV gilt als umstritten, weil sie de facto eine Klassifizierungspflicht für jeden Website-Betreiber vorsieht. Wer seine Inhalte im Web nicht daraufhin überprüft, ob sie gemäß den aus dem Filmbereich bekannten Altersfreigaben (ab 0, 6, 12, 16 und 18 Jahren) "entwicklungsbeeinträchtigende" Wirkung entfalten könnten, riskiert ab 1. Januar 2011, juristisch belangt zu werden. Denn falls er tatsächlich derlei Content vorhält, müsste er dem neuen JMStV zufolge entweder den Zugang dazu für Jugendliche erschwerden, den Content nur nachts abrufbar halten oder ihn gemäß einer noch zu veröffentlichenden Spezifikation kennzeichnen.
[Update]:
"Das ist ein Stück aus dem politischen Absurdistan", sagte NRW-Regierungssprecher Thomas Breustedt gegenüber dpa. Immerhin trage der Vertragsentwurf bereits die Unterschrift des früheren Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU). Am heutigen Mittwoch sollen die Gespräche der Fraktionen fortgesetzt werden. SPD und Grüne verfügen im Landtag über 90 Stimmen, CDU, FDP und Linke zusammen über 91. In den CDU-Reihen werden am Donnerstag aber zwei Abgeordnete fehlen, berichtete die Süddeutsche Zeitung -- unter anderem Rüttgers. "Man kann sich durch politische Flucht entziehen – nicht aber seiner politischen Verantwortung", kommentierte Breustedt die Kehrtwende der CDU.
[2. Update]:
Die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag will nun auch gegen den Jugendmedienschutzstaatsvertrag stimmen, erklärte der Aachener SPD-Ratsherr Michael Servos über Twitter. Damit wäre der Vertrag erst einmal vom Tisch, da er in NRW keine Mehrheit gefunden hätte. Die endgültige Abstimmung im Düsseldorfer Landtag findet aber erst am morgigen Donnerstag statt.
[3. Update]:
Trotz inhaltlicher Bedenken wären die rot-grünen Koalitionsfraktionen "aus staatspolitischer Verantwortung" bereit gewesen, dem Staatsvertrag zuzustimmen, hieß es laut dpa aus der SPD-Fraktion. Nachdem sich nun aber selbst "die Verursacher" von dem Vertragswerk distanzierten, seien SPD und Grüne nicht bereit, allein zuzustimmen. Im Laufe des Vormittags wollen SPD und Grüne Näheres zu ihren Entscheidungen bekannt geben.
[4. Update]:
Die Machtspielchen um die Novellierung des Jugendmedienschutzstaatsvertrags (JMStV) in Nordrhein-Westfalen sind wohl nun tatsächlich vorbei: Nachdem sich überraschend die CDU-Fraktion zu einer Ablehnung des JMStV erklärt hatte, will auch die rot-grüne Minderheitsregierung nicht mehr mitmachen. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft erklärte, die rot-grüne Minderheitsregierung werde für einen Vertrag, gegen den sie ohnehin Bedenken habe, nicht ihren Kopf hinhalten: In einer gemeinsamen Pressekonferenz kündigten die SPD und die Grünen in Nordrhein-Westfalen ganz offiziell an, dass sie im Düsseldorfer Landtag den novellierten Jugendmedienschutzstaatsvertrag ablehnen werden. Von den Grünen hieß es nun, ihre fachlichen Bedenken wegen Rechtsunsicherheit und fehlender Software hätten sich bestätigt. Zuvor waren besonders die Grünen sehr unter Beschuss geraten, nachdem die Landtagsfraktion noch im November erklärt hatte, man sei weiterhin gegen den JMStV, "die Fraktion hat sich aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen".
Mit der nunmehrigen Ablehnung der JMStV-Novelle verbinden die beiden Parteien die Ankündigung, es werde im kommenden Jahr gleich eine rot-grüne Initiative für "verbesserten, aber wirkungsvollen Jugendschutz" geben. Da würden allerdings nicht nur etwa der Arbeitskreis gegen Zensur, sondern auch manche Juristen eine etwas grundlegendere Herangehensweise befürworten: Nach Meinung etwa des IT-Rechtlers Thomas Stadler gehört der Jugendmedienschutz "generell auf den Prüfstand". Zumindest einige Stimmen aus den Parteien lassen auf ähnliche Ansichten schließen. So meinte etwa der SPD-Netzpolitiker Björn Böhning zu der Ablehnung der JMStV-Novelle durch seine NRW-Kollegen, jetzt gelte es umzudenken: "Nicht einfach weitermachen, sondern zurück auf Los! Der JMSTV muss insgesamt neu gedacht werden. Jugendmedienschutz, so wie er bisher im Rundfunk praktiziert wurde, kann in dieser Form nicht pauschal auf das Internet übertragen werden."
Alvar Freude vom AK Zensur meinte, "für uns und die 'Netzgemeinde' bedeutet dies, dass Netzpolitik von den Parteien ernst genommen wird und die Bedenken und Hinweise der Experten angekommen sind". Man sei auch weiterhin bereit, sich konstruktiv an einer "Weiterentwicklung von Jugendschutz und Netzpolitik" zu beteiligen, insbesondere "an der dringend notwendigen und sinnvollen Reform des JMStV". Endgültig entschieden über das Schicksal der JMStV-Novelle wird am morgigen Donnerstag: Dann findet die Abstimmung im Plenum des Landtags von Nordrhein-Westfalen statt. In den kommenden Wochen und Monaten wird es dann spannend werden, wie die Politik künftig an Jugendschutz im Internet herangeht – und wie sich Bürgerrechtler und Netzaktivisten dazu verhalten. (hob)