Was war. Was wird.
Manchmal werden in der norddeutschen Tiefebene nicht nur Küken, sondern auch gar seltsame Ideen ausgebrütet. Das Grauen aber kommt erst, wenn diese Ideen helfen, die neue Bundeskanzlerin zu küren. Seltsame Ideen aber, die gibt es nicht nur in der norddeutschen Tiefebene. Zum Glück, schüttelt Hal Faber verwundert den Kopf.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Unverpixelt scheint die Spätsommersonde auf die norddeutsche Tiefebene, diese Brutstätte von Mastputen und Wahnsinnsideen zum Bildungschip. In ihrem Sommerurlaub im schönen Burgdorf hat unsere Ministerin für Arbeit und Soziales eifrig Studien zum Einsatz der FamilienCard in Stuttgart gelesen, mit der 4,7 Millionen Euro Zuschüsse unter 55.000 Kindern verteilt werden. Was dort von allen Kindern genutzt werden kann, soll bundesweit 1,7 Millionen Kindern und Jugendlichen weiterhelfen. Anders als die neue hessische Familienkarte mit ihrem billigen Barcode sind die Bildungschips Geldkarten, deren Guthaben von handelsüblichen Lesegeräten ausgelesen werden. Mindestens 300.000 zusätzliche Geräte darf die IT-Branche liefern, wenn Geld für Nachhilfe, den Musikunterricht, das Schulessen und das Freibad über die Karte laufen soll. Damit der Bildungschip kein Unterschichtenchip wird oder als Asozialcard ausgrenzt, soll seine Einführung stufenweise ausgedehnt werden, auf alle Kinder, deren Eltern Kindergeld kassieren. Eine weitere Überlegung, die allerdings aus Berlin kommt: Vollends unsichtbar wäre die Stigmatisierung, wenn die elektronische Gesundheitskarte als Börse mitgenutzt wird. Ist es auch Wahnsinn, so hat er doch Methode: Neben staatlichen Hilfen, die nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab 2011 geleistet werden müssen, sollen Sponsorengelder auf die Karte fließen. Bildungsgerechtigkeit mit Markenbewusstsein verknüpfen, das darf als Leistung der künftigen Bundeskanzlerin von der Leyen gut geschrieben werden.
*** Ich lernte früh den Wert der Bildung kennen: In meiner Heimatstadt Hannover, deren Schönheiten ich jetzt außen vor lasse, wozu gibt es dieses wunderbare Street View von Google, das 2008 die ganze Schönheit erfasste, durfte ich ab der 9. Klasse Nachhilfe in Mathematik geben. Zuerst für Realschüler, dann für Gymnasiasten. In der Oberstufe mit dem Leistungskurs Mathematik war Nachhilfe meine wichtigste Einnahmequelle und führte direkt zu meinen Sommerjob, das Reparieren und Ausliefern von HP-Taschenrechnern: Bildung ist Kohle bar auf die Kralle. Damit ist es zu Ende, der Verband der Nachhilfeschulen jubelt in einer PDF-Datei genau wie der Verband deutscher Musikschulen, der vom Familienminsterium unterstützt wird. Mit der Chipkarte im Ranzen wird Nachhilfe vom zertifizierten Lehrer mit Lesegerät kommen, der das Geld aus dem Nachhilfe-Geldfach der Karte entnimmt. Anstelle des Jugendamtes kümmert sich ein "Familienlotse" von der Arbeitsagentur um Kind und Chip. Die Jobcenter der Agentur werden zur "Informationsdrehscheibe" mit neuen Datensammlungen beschäftigt, den "Bildungsprofilen". Außerdem sehen sie sich im Nachhinein in ihrer widerwärtigen Drangsalierungspraxis bestätigt: Der Bildungschip als Klassenschranke ist einfach große Klasse.
*** Geschlagene 18 Monate verhandelte Intel, ehe die Übernahme von McAfee in trockenen Tüchern war. Mit 7,7 Milliarden Dollar ist es der teuerste Aufkauf von Intel und ein neuer Kaufrekord für die Sicherheitsbranche. Wer will, kann den offiziellen Äußerungen folgen, nach denen durch Kombination von Hard- und Software ein besserer Schutz für Kundensysteme möglich wird. Wer länger auf die Branche guckt, wird sich amüsiert daran erinnern, dass Intel einstmals selbst Antivirus-Software unter dem Namen LANDesk entwickelte, die Firmen aber absplitterte, nachdem die Antivirus-Komponenten an Symantec verkauft wurden. Verschwörungstheoretiker kommen übrigens auch auf ihre Kosten und erinnern sich an den Intel-Ingenieur Tim May, den Verfasser des Cyphernomicon. Dies ist ein elend langer Text über den Skipjack-Algorithmus, der in die Clipper- und Capstone-Chips wandern sollte, und die Möglichkeit, elektronischen Widerstand gegen diese eingebaute Überwachung zu leisten. Für Intel markierte die Debatte um die Verschlüsselungschips der NSA eine herbe Niederlage, denn die Konkurrenz sollte die Aufträge bekommen. Dem Intel-Ingenieur May war es gestattet, sich an der Kampagne gegen die Chips zu beteiligen, die im Frühjahr 1993 ihren Höhepunkt erreichte. Denn auch Intel sah sich mit dem zu Skipjack gehörenden Gesetz konfrontiert: Zur Kryptografie geeignete Prozessoren sollten mit einem Law Enforcement Access Field (LEAF) ausgestattet werden. So kommt zusammen, was verschwörungstechnisch zusammen gehört: Das Hin und Her um McAfee und die Kooperation oder Nicht-Kooperation mit dem FBI und seinem Magic Lantern wird doch nicht vergessen sein?
*** Achja, die Erinnerungen. Sie verklären viel, erklären wenig. Wie war das noch beim Internet, als alles anfing und das längste Kapitel bei Ed Krol sich mit der Acceptable Use Policy des NSFnet befasste? Das Internet war ein recht freier Raum, der weltweiten Kontakt mit anderen Netzen dann gestattete, wenn der reziproke Zugriff auf Ressourcen anderer Netze gestattet war. Eindeutige Regeln verboten PR-Müll und Werbemüll im Netz: Damit waren auch die Inhalte von Zeitungen gemeint, im Unterschied zu wissenschaftlichen Beiträgen. Daran hielt sich auch strikt das WWW, als es am CERN in der Schweiz gestartet wurde. Nun kommt aus der Schweiz ein wüster Artikel, in dem so gut wie gar nichts stimmt. Seltsamerweise ist es die ehrbare Neue Zürcher Zeitung, die das Plädoyer eines Verlages für einen Zeitungsschutz druckt, der ein "Leistungsschutzrecht nach deutschem Vorbild" haben will. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass es dieses Recht noch gar nicht gibt, sondern von Leuten mit kleinem Verstand diskutiert wird. Der Text, der allen Ernstes auch eine staatlich geschützte Alternative zum iPad fordert, beginnt so: "Genau erinnert sich keiner mehr, wann und warum das Internet zum rechtsfreien Raum wurde. Es mag mit der Vervielfältigung von Computerprogrammen und den Musiktauschbörsen begonnen haben oder mit den ersten Manuskripten von noch nicht publizierten Büchern, welche die elektronische Runde machten und gratis gelesen werden konnten." Nein, Herr Neininger, die Sache begann mit wissenschaftlichen Texten, die gelesen und diskutiert werden konnten, um später in gelehrten Büchern zu enden – das alles stand auch nicht "plötzlich weltweit zur Verfügung", sondern entwickelte sich nicht eben schnell, wie ein Blick zu den Nachbarn zeigen kann.
*** Noch gibt es kein Leistungsschutzrecht. Es gibt eine Forderung von Verlegern, die von blasierten Gewerkschaftsfunktionären der Journalisten vertreten wird, die eh nur darum besorgt sind, dass Journalismus in Deutschland eine ungeschützte Berufsbezeichnung ist und nicht durch Schrifttumskammmern geschützt werden darf. Aber das soll ja mit dem Leistungsschutzrecht "vertraglich gelöst" werden. Und es gibt die FDP, die Partei mit schmiegsamen Ansichten, die das Leistungsschutzrecht unter ihre Geld- und Steuer-Fetische genommen hat. Es müsste natürlich Fittiche heißen, aber hey, das ist ein "Snippet", definiert als Textauszug, der die Lektüre eines ganzen Textes (hier des FDP-Parteigrammes) überflüssig macht. Inzwischen ist der Unsinn in Amerika angekommen und produziert neuen hanebüchenen Unsinn wie den, eine Karenzzeit von 24 Stunden für Nachrichten einzuführen, die Aggregatoren wie Google und Bing einhalten müssen.
Was wird.
Noch ist Sommer, wie die Loch-Debatte um das schlimme Street View und das böse Google zeigt. Auch ich finde es ganz schwer furchtbar, wie Google unseren blauen Planeten verschandelt und habe einen Antrag auf Verpixelung der Erde gestellt. Derweil hat Google reagiert und Like.com gekauft, niedlich umschrieben als Software für "Überkreuzvergleiche von Kleidungsstücken". Früher unter dem Namen Riya bekannt, war dies eine Bildersuchmaschine mit der Möglichkeit zur Gesichtserkennung. Freuen wir uns auf den bald kommenden Tag, wenn unsere Verbraucherschutzministerin die neue Google-Technik bei Booble ausprobiert. Eine völlig neue Welle von Verpixelungswünschen ist im Anmarsch.
Anmarsch, Anmarsch, da war doch was? Genau: Die Vorbereitungen für die vierte Demonstration Freiheit statt Angst laufen auf Hochtouren. Unter den Augen vieler Überwachungskameras gehen die Anti-StreetView-Aktivisten auf die Straße und demonstrieren für das Recht am lebenden Pixel. Passend dazu gibt es ein Versprechen, weil die Veranstalter der "Großdemonstration" ziemlich klamm sind. Mein Vorschlag: Einfach die Global Rainmakers mit ihrem Iris-Hoax in Berlin auftreten lassen, auf den selbst kritische Journalisten hereinfallen. (jk)