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Was war. Was wird.

Die Giganten aus Fleisch und Stahl haben sich als wachsamer erwiesen als der Viehzüchter aus dem Cyberspace erwartet hatte. Hal Faber spaziert unter blutroten Himmeln und denkt: "Aux armes, citoyens".

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Es gab mal eine Zeit, da tingelte ein US-amerikanischer Viehzüchter durch Europa, der nicht Buffalo Bill hieß. Seine wortgewaltig vorgetragene Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace kam an. Perry Barlow erhielt in Davos standing ovations und wenig später auf der Multimediamesse Milia in Cannes sogar einen goldenen Ehrenpreis der Medienbranche. Das war 1996, als die D wie Digital synonym für D wie viele, viele Dollars waren. "Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes", donnerte Viehzüchter. "Wir werden eine Welt schaffen, in der jeder überall seine Meinung ausdrücken kann, egal wie vereinzelt sie sein mag und sie ausdrücken kann, ohne Angst davor, zum Schweigen oder zum konformen Denken gezwungen zu werden." Eine einzige einheitliche Netzwelt werde es sein, verkündete Barlow unter tosendem Applaus und schätzte auf Anfrage, dass in 20 Jahren Regierungen im klassischen Sinne keine Rolle mehr spielen werden.

*** Noch ist 2016 ein Stückchen entfernt, aber nichts spricht dafür, dass sich dieser wundervolle Cyberspace bis dahin materialisiert oder besser digital voll entwickelt hat. Statt freier Rede gibt es Twitter mit Länder-KTZ, statt grenzenloser Freiheit die große digitale Mauer und statt der Giganten aus Fleisch und Stahl sind Googleplexe gewachsen und gejubelt wird über den Börsengang eines Unternehmens, dass den aufrechten Gang freier Menschen an eine Zeitleiste nagelt. Wer liest, wie über Facebook und Online-Chats der Konformitätsdruck wächst und tödlich sein kann, wird kaum von einer neuen Heimat des Geistes schwärmen.

*** Nun aber setzt der konservative Backlash ein und schlägt in Kenntnis der Vorbilder zu: "Nun haben Wikipedia und Google in den letzten Tagen ihren starken Arm gezeigt. Doch Googles und Wikimedias dieser Welt, lasst euch zurufen", schreibt Ansgar Heveling, der "Speer Gottes", der seinen Barlow gelesen hat, auf den digitalen Maoismus eines Jaron "Lavier" anspielt und auch seinen Hegel ganz wunderbar plagiieren kann:

"Wenn wir nicht wollen, dass sich nach dem Abzug der digitalen Horden und des Schlachtennebels nur noch die ruinenhaften Stümpfe unserer Gesellschaft in die Sonne recken und wir auf die verbrannte Erde unserer Kultur schauen müssen, dann heißt es, jetzt wachsam zu sein."

*** Ernst Jüngers ruinienhafte Baumstümpfe aus den Stahlgewittern grüßen und recken in sich in den Abend, an dem sich über der verbrannten Erde der Kultur ein blutroter Himmel auftut und die Eule losfliegt, die mehrfach schon in dieser kleinen Wochenschau grüßte. Damit genau das nicht passiert, was seit Hegels Eule das Absterben einer alten Gesellschaftsform genannt wird, muss man "jetzt wachsam" sein. So steht es in dem seltsamen Text , den Heveling veröffentlichte, als er sich in Cannes auf der Musikmesse MIdem aufhielt, wo SOPA und PIPA vor den digitalen Horden verteidigt wurden. Wo beginnt die Wacht für die Kultur? Natürlich in Paris:

"Diese bürgerliche Gesellschaft mit ihren Werten von Freiheit, Demokratie und Eigentum hat sich in mühevoller Arbeit aus den Barrikaden der Französischen Revolution heraus geformt - so entstand der Citoyen. Und genau dort, in den Gassen von Paris im Jahr 1789, wurde die Idee des geistigen Eigentums geboren."

*** Aus der Parole Liberté, Égalité, Fraternité, die die "Hybris Wikipedia" korrekt mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wiedergibt, wird bei Helveling der Dreischritt Freiheit, Demokratie und Eigentum, wobei dieses Eigentum umstandslos auf geistiges Eigentum verkürzt wird. Das wiederum wird von "den Piraten" geraubt, weil sie es nicht achten. Sieht man von dem Schnitzer ab, dass Räuber nur das rauben, was für sie einen Wert hat, muss diese Passage mindestens als Raubversuch am gesunden Menschenverstand gewertet werden, wenn dem Citoyen, dieser "Masse Mensch vor den Maschinen" der Pirat gegenübergestellt wird. Aux armes, citoyens, formez vos bataillons!

"Sie achten das Eigentum des anderen nicht, setzen ihr Wissen nur für den eigenen Vorteil ein, sind darauf bedacht, zusammenzuraffen, was sie von anderen kriegen können."

*** Wir fragen: wer ist Nerdzismus-Experte Ansgar Heveling (CDU)? Ist er vielleicht ein narzisstischer Zwilling von Rolf Stöckel (SPD)? Auch sein aktueller Text über die Piraten und die Hohepriester und nützliche Idioten ist bemerkenswert kurzschlüssig. Er wird aber nicht beachtet, weil er ohne die Reizworte auskommt, auf die die üblichen Verdächtigen aufgeregt reagieren. Was spricht gegen die Piraten und ihre Sicht der Dinge? Na? Natürlich die Verwendung von nerdigen, narzisstischen Nicknames, wie man das von Kriminellen kennt.

"Das Paradiesversprechen der Piratenpartei ist die totale Freiheit im Internet, ihr Gottseibeiuns heißt Zensur. Dass sie mit dieser Agenda die Interessen von Internet-Industrie und Kriminellen bedienen, haben die Piraten noch gar nicht begriffen. Sie kämpfen für die totale Freiheit im Inter­net – als Abgeordnete müssen sie nun im Parlament ihre Pseudonyme fallen lassen."

*** Was folgt, ist eine Argumentationskette, die beweisen soll, dass die Piraten die Handlanger der Internet-Industrie sind, die nach Möglichkeit Unkosten vermeiden will, die Urheberrecht und Kinderpornographie mit sich bringen. Ja, das kann man zusammendenken, wenn alle Schrauben locker sind. Schließlich gilt das Piratensegel im Saarland bei aller Wurschtelei als echte Bedrohung, von Berlin und vom Zockerparadies Schleswig-Holstein ganz zu schweigen.

"Für ein seriöses Netz, für eine effiziente Selbstregulierung und die Durch­setzung internationaler Regeln müs­sten die Profiteure des Internet einen hohen Preis zahlen. Der Chef des Verbands der Internetwirtschaft ECO schätzt, dass allein die gesetzliche Sperrung so genannter Kinderporno-Seiten in Deutschland mehr als 100 Millionen Euro im Jahr kosten würde. Da kommen die Piraten für das total freie Internet gerade recht."

*** Ein Satz ist besonders albern und toppt jeden Hevelingualismus: "Das Telefon hat Hitler nicht verhindert." Müssen wir uns jetzt eine Telefonkette vorstellen, mit der ein Sozialdemokrat einen anderen Sozialdemokrat angerufen hat und, weil mal einer auf dem Klo hockte, Hitler an die Macht kam? Wie war das damals mit dem Radio? Es war das Massenmedium, das 1931 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise vom Reichskanzler Heinrich Brüning als wichtigstes Regierungsinstrument genannt wird. Im Jahre 1924 schrieb der preußische Innenminister Carl Severing, ein Sozialdemokrat:

"Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass das im Rundfunkwesen liegende Beeinflussungsmittel sehr bald eine solche Bedeutung gewinnen wird, dass eine Regierung, die darauf keinen maßgeblichen Einfluss hat, überhaupt den Boden unter den Füßen verloren hat."

*** Wie sieht es mit dem Internet aus, in dem Piraten hausen, Citoyens debattieren und Angilzismen bekämpft werden? Als neue Form der Partizipation hat die Bunderegierung einen Internetdialog mit dem Volk gestartet, begleitet von einem Expertendialog, der die Vorschläge sichtet. Diese können ohne Probleme mit einem Bot in der Hitliste hochlaufen wie aktuell das Votum zum Islam zeigt. Es gibt die Enquetebeteilung zur Komission Internet und digitale Gesellschaft, die mit glazialer Geschwindigkeit arbeitet. Und wer auf europäischer Ebene den kleine Twitter-Fragestunde von EU-Kommissarin Neelie Kroes in dieser Woche beobachtet hat, wird bemerken können, dass der Boden unter den Füßen noch da ist und steinhart. Entsprechend bösartig und schlecht gelaunt fallen die Antworten der selbsternannten Vermittler aus. Da ist von Internet-Zombies und Internetausdruckern die Rede und von einer Modernitätssimulation, die an DDR-Zeiten erinnere. Was lehrte uns die Eule Hegels? Zustände sind Prozesse, Vorgänge sind Übergänge.

*** Auch ein langer Atem kann heiß sein, und die Freude groß, wenn das Resultat bei Heise so überaus gut aussieht. Ein Blick auf das im Protest linklos gebliebene WWWW zeigt, welcher Fortschritt uns erspart geblieben ist. Dass ausgerechnet ein fortschrittsblinder Verband nun an Journalisten appelliert, verantwortungsvoll mit dem Urteil umzugehen, ist das Sahnehäubchen auf dem, ähem, Schneckenteller. Weil das Internet noch viele Momente dieser Art braucht und viele, viele ganz gewöhnliche Netizen, die da "reinschreiben", darf ein Gedicht nicht fehlen, mit Verbeugung vor Wislawa Szymborska, deren Grabstein-Gedicht die Leser erfreute.

Ich möcht' einmal am Sender stehn
und sprechen dürfen. - Ohne Zensur.
Ein einziges Mal. - Eine Stunde nur -
»Hetzen« - und Hass und Feuer säen. -
Lasst einmal mich am Geräte stehn
und nur einen Tag aus meinem Leben
wahrhaft und nüchtern »zum besten« geben.
- Nichts weiter. Es würde ein Wunder geschehn.
- Ich möchte die wütenden Fratzen sehn
Wenn's hieße: »Achtung! Deutsche Welle!
Eine Arbeiterin spricht! - Thema: Die Hölle.« (1932)

Was wird.

Ganz Europa freut sich über den kommenden Safer Internet Day, der das Internet sicherer macht. Europa freut sich auch über ACTA, wegen der Medikamentensicherheit und so. Ganz Europa? Während die deutsche Regierung gelassen bleibt und keine Änderungen auf sich zukommen sieht, gibt es in ganz Europa am kommenden Samstag Demonstrationen gegen das Abkommen. In ganz Europa?. Es gehört zu den Seltsamkeiten des gemeinsamen Europas, dass es Vertragswerke gibt, die einheitlich erscheinen, aber national sehr unterschiedlich ausgelegt werden können. Abseits von ACTA zeigt dies der europäische Haftbefehl im Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange vor dem Supreme Court des Vereinigten Königreichs. Im deutschen Rahmenbeschluss ist die Formulierung schlicht und hätte längst zu einer Auslieferung von Assange gereicht: "Dieser Haftbefehl ist von einer zuständigen Justizbehörde ausgestellt worden." Stempel drauf, fertig. Die große Ordnung ist die große Unordnung. (vbr)