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Was war. Was wird.

Ja, bald öffnen die Wahllokale, und in der Politik erinnert sich keiner mehr einer der Sternstunden des Bundestags, für die der verstorbene Marcel Reich-Ranicki sorgte. Hal Faber erinnert. Auf dass die Wahlen nicht nur quälen.

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Hielt die Welt an? Aber nicht doch, nicht eine müde Schaltsekunde lang. Während in Genf sich die Fachleute darüber stritten, ob die Schaltsekunde abgeschafft werden sollte oder nicht, starb Marcel Reich-Ranicki, Literaturliebhaber und Jude. Heute wird bekanntlich in Deutschland gewählt, deswegen ist es die Chronistenpflicht, auf die wichtigste Rede dieser abgelaufenen Legislaturperiode hinzuweisen, die im Deutschen Bundestag zu hören war. Von Marcel Reich-Ranicki, über den Beginn der Judentransporte aus dem Warschauer Ghetto und seine Heirat mit Tosia Langnas. Der schlichte Bericht eines Augenzeugen ist sicher jenseits der Tagespolitik, die sonst unter der Kuppel getrieben wird, mit überaus mieser Bilanz, was die letzten Jahre anbelangt. Stand Reich-Ranickis Rede über den Parteien, wie sein Tod? Aber nicht doch, nicht eine müde Sekunde lang.

*** Reich-Ranicki ist gestorben und in den Kreislauf der Natur eingegangen, um es Gysikalisch zu sagen. Die deutschen Zeitungen sind voll mit Nachrufen, Zurufen, Abrufen und Unkenrufen, wo bittschön jemand ist, der so verreißen kann und loben. Dabei ist es längst bekannt, dass der Tod eines Kritikers lange vor dem Tod dieses Kritikers eingesetzt hat. Heute genügt ein einfacher Satz: "Empfehlungen für Sie: Bücher". Dabei kommt niemals, so eine wunderbare Liste von 101 Büchern heraus, in der Woody Allen und Karl Marx und Joseph Heller in einer Kategorie zusammengefasst sind. So kommen wir vom Rufen zum Schreien und, in Gedenken an den Redner Reich-Ranicki, der wusste, dass sein Glück ein einsames Glück ist, ohne die Gemordeten. Diese Passage von Carl Amery aus dem abwesenden Gott passt.

du schreist: der himmel ist nicht für die vögel da, die weltgeschichte nicht für die abkömmlinge von schimpansen. Ich aber sage dir: kein Himmel, der nicht für die vögel da ist, war und ist je für dich da; und ferner: was du dem geringsten Meiner schimpansen, deiner brüder, antust, das hast du dir selbst getan; und abermals: wenn du nicht wirst wie der geringste dieser schimpansen, wirst du nicht in das Reich eingehen. du fragst: wo ist dieses Reich, das Du mir versprochen hast? Ich aber sage dir: das Reich, das paradies, ist in dir und um dich, und du hältst deine augen, dass du es nicht sehen musst. du fragst: ist nicht alles auf meine freiheit, mein glück, meine befriedigung allein angelegt? und Ich sage dir: glück für einen allein gibt es nicht.

*** Heute ist Waltag und Herbstäquinoktium, vulgo Herbstzeitgleiche zugleich. Die dicken Wale machen sich bereits fesch zum großen Koalitionskuscheln, die Rechnung mit der sorgsam orchestrierten Pädophilie-Kampagne ist aufgegangen, wie der Mond vom ollen Claudius. Kann eine Stimme für die Piratenpartei den Quant Trost spenden, der eigentlich für den kranken Nachbarn reserviert ist? Doch krank sind wir alle, im modernen Überwachungs- und Geheimdiensstaat und all diejenigen besonders, die an dem blöden Satz "Wer nichts zu verbergen hat..." leiden. "Wie kann man sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ausüben, wenn der moderne Analytiker einem gar nicht sagt, was er gefunden hat, und auch nicht fragt, ob er davon öffentlich Gebrauch machen darf?" Die Frage stammt von einem Medientheoretiker, nicht von einem Politiker. Oder wie wäre es mit diesem Satz: "Man muss von einem Totalitarismus der Daten sprechen. Wenn diese in die Hände derer gelangen, die von Demokratie nichts mehr halten, dann sind die Grundsätze unserer Rechtsordnung in Gefahr." Wieder kein Politiker, sondern der DDR-Bürgerrechtler Schorlemmer, der in der Süddeutschen Zeitung erzählt, welche Freude Stasichef Mielke an den Daten gehabt hätte.

*** Um es kurz zu machen: Die Warten-wir-es-mal-ab-Einstellung der Kanzlerin ist schlimm, aber hey, es ist ja Walkampf. Jeder weiß seit Käpt'n Blaubär, wie unzuverlässig Wale sind. Sie halten niemals ihre Versprechen ein und schwimmen frohgemut in die Große Kollision, wo das Regieren so leicht ist: Wir Muttis entscheiden. Was wir in diesem Walkampf hinzugelernt haben: Wale vergessen nicht nur Versprechen, sondern sind schlicht Verweigerer. Die große politische Leistungsverweigerung ist das Walthema schlechthin. Wieso da eine Wal-Gegnerin die Diskussionsteilnehmer schockieren kann, bleibt ein großes Rätsel. Schließlich gibt es genug Lautsprecher, die die Freiheit des Nichtwählers als schicken Platz für Vermarktungsstrategien entdecken. Wenn sich nichts ändert, wie wäre es mit einer neuen Haarfarbe? Ein richtiger Abwal sieht anders aus.

*** In diesen unseren lähmenden Walzeiten mit einer untätigen Regierung gibt es interessante Veränderungen. Da wäre etwa die Firma RSA, die vor einer Schwachstelle in einem eigenen Produkt warnt, oder eine Aloha, die selbstbewusstes Marketing betreibt: Nun, wo wir wissen, wie die NSA arbeitet, können wir uns auch wehren, mit verschlüsselten PDF-Dateien. Doch wissen wir wirklich, wie da gearbeitet wird bei NSA und GCHQ, nur weil es Powerpoints über die "Operation Socialist" gibt, die Snowden und Greenworld veröffentlichen? Hat das Geschmeiß von NSA und GCHQ nur Edelrouter besetzt oder auch andere? Gewissheit besteht nur, dass die "Known Unknowns" größer sind als bisher angenommen. Wir haben Komponenten und Bruchstücke und Chips, zu denen die Methoden und versuche addiert werden müssen, die etwa chinesische und russische Geheimdienste auf Lager haben. Nicht zu vergessen die Zulieferer wie Vupen, die ihrerseits bei Enttarnung weitere Zulieferer von Sicherheits-Exploits wie ManTech nennen. War da was? Richtig, von ManTech International kamen die Experten, die die Rechner von Chelsea Manning auf Spuren untersuchten, die zu Wikileaks führen sollten. We are family, tralala. Und wer liefert eigentlich die Software für selbstverschlüsselnde Festplatten nach FIPS 140-2 in unsere Rechenzentren?

Was wird.

NSA, GCHQ, NSA, geht es eigentlich auch anders? Heute vor 52 Jahren stimmte der US-Kongress für ein Gesetz, mit dem das kurz zuvor gegründete US-amerikanische Friedenscorps finanziert und rechtlich verankert wurde. Das war anders als bei Perry Rhodan eine skurrile Truppe, die eigentlich niemand haben wollte. Die Vorgeschichte: Im Oktober 1960 landete US-Präsident John F. Kennedy mitten im Walkampf gegen Richard Nixon um 2 Uhr in der Früh an der Universität von Michigan. Dort hatten Tausende von Studenten in der Kälte auf ihn gewartet. Kennedy begann einer seiner üblichen Walkampfreden, doch dann begann er zum Entsetzen seiner Entourage zu improvisieren und schwärmte von jungen Missionaren, nur eben ohne Religion. Die Kurzansprache rief die amerikanische Jugend auf, zwei Jahre ihres Lebens als freiwillige soziale Jahre draußen in der Welt zu verbringen. Eine freie Gesellschaft sollte gewaltlos im Kalten Krieg amerikanische Werte demonstrieren. Noch in derselben Nacht sollen sich 1000 Freiwillige zum Friedensdienst verpflichtet haben, der hastig improvisiert wurde. Nixon lästerte heftig über den "Wehrdienst für Schlaumeier", doch schaffte er es nicht, das Friedenscorps aufzulösen, die Truppe, die das Bild vom kriegerischen Amerikaner bekriegen sollte. Nachahmungsvoll wollte Willy Brandt ein deutsch-amerikanisches Friedensheer aufstellen.

Willy Brandt? Der liebeshungrige Kanzler, dem sein Parteifreund und Rasterfahnder Horst Herold eine Liste aller Frauenkontakte vorlegte, ganz ohne Komissar Computer? Im Jahr 1937 wohnten Willy Brandt und George Orwell in Barcelona in demselben Hotel. Orwell kämpfte als Abgesandter der der Independent Labour Party auf der Seite der POUM, Brandt arbeitete als Journalist für norwegische Zeitungen. Orwell wie Brandt waren gegen den radikalen Kurs der POUM, die gleich nach der Verteidigung der Republik mit der sozialistischen Revolution weitermachen wollte. Damit argumentierten beide auf der Linie der moskautreuen Kommunisten, die bald mit einer mörderischen Säuberungsaktion begannen. Diese Erfahrungen mit der Komintern verarbeitete Orwell in "1984". Ein spannendes Buch aus unserer Zukunft. (jk)