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Was war. Was wird.

Schnee. Ja, das ist alles, was aufmerksamkeitsökonomisch derzeit Bedeutung hat, befürchtet Hal Faber. Alles andere wird wie das Shit-Flag im Passenger Name Record unter der Hand abgewickelt. Und die Aufmerksamkeitsökonomie endlich zu Grabe getragen.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Wo war ich bloß stehen geblieben? Es ist tatsächlich 2010 geworden, das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen. Vielleicht haben wir sogar schon Kontakt aufgenommen – unter Vielen, die ihre Hoffnungen auf Obama gesetzt haben, befinden sich auch die UFO-Gnostiker. Sie sind davon überzeugt, dass Obama 2010 die Existenz von Aliens offen anerkennen und die Archive öffnen wird. Darauf einen pangalaktischen Donnergurgler oder besser zwei oder drei, damit die Rollmöpse wieder schwimmen können.

*** Nehmen wir einmal an, dass Obama die Sache ernst nimmt wie den Friedensnobelpreis, die UFO-Archive öffnet und die Roswell-Dokumente freigibt. Wird er auch die schlichte Tatsache verkünden, dass es längst einen Borganismus gibt und dieser als mächtiges Wesen im Internet lebt? Denn, wie jeder Kenner der Geschichte vom Raumschiff Enterprise weiß, ist die Erde eigentlich längst eine kleine Borgwelt: Sie sind unter uns und drehen in Bielefeld und Griechenland einen Film, der 2010 die ganze Wahrheit erzählen wird.

*** Man könnte jetzt wie weiland Erich von Däniken die zahllosen Beweise für den Borganismus zusammenstellen. Da wären die Social Networks wie Xing und Facebook, bewusst schwachsinnig gehaltene Dienste, die 1:1 Kaffeekränzchen oder Cliquentreffen abbilden und damit eine Art Leben simulieren. Glaubt wirklich jemand, dass Menschen, die das Internet phantasievoll nutzen können, sich mit so banalen Identitätsspielereien zufrieden geben und Freundeslisten im Internet brauchen?

*** Menschen unterscheiden sich eben von Borgs dadurch, dass sie nicht einfach assimiliert werden können. Sie haben eine Privatsphäre, tragen Kleidung und lieben das Chaos, in dessen Schutz informationstechnische Lebenszusammenhänge gedeihen. Eine Borg-Königin, die ihre Aufgabe darin sieht, Ordnung in das Chaos zu bringen, ist ihnen zuwider. Doch Menschen haben eine große Schwäche: Das blinde Vertrauen in die Segnungen der Technik, das besonders bei Politikern so stark ausgebildet ist, dass sie unter Rückgratverkrümmung leiden vom vielen Umschwingen. Nun müssen Nacktscanner her und noch in diesem Jahr installiert werden, weil das mit der Privatsphäre schnippeldischnapp mit ordentlich Politdampf gelöst werden kann.

*** Man beachte nur, wie FDP-Chef Westerwelle beim strammen liberalen Njet die Einschränkung macht, dass technische Fortschritte den Schutz der Intimsphäre leisten können. Sein Glaube erinnert an die technischen Ammen-Märchen, dass die LKW-Maut der Umwelt hilft und die Gesundheitskarte mit Notfalldaten im Chip Leben rettet. Oder dass die Sicherheit beim Fliegen stark gestiegen ist, seitdem eine Stunde vor Landung das WC versperrt wird. Das entsprechende wissenschaftliche Projekt zum technischen Fortschreiten trägt den netten Namen Theben, was ein Akronym für "Terahertz-Detektionssysteme: Ethische Begleitung, Evaluation und Normenfindung" sein soll und schon mal einen netten Hinweis liefert. Wenn es mit der ethischen Begleitung hapert, finden wir halt eine neue Norm, komplett mit der Umbenennung von Nackt- in Bodyscanner. Jeder, der seine Murmeln noch beieinander hat, kann sich ausrechnen, wie der Unsinn weiter eskaliert: Die Terroristen stellen auf intrakutanen Sprengstofftransport um. Flugwillige bekommen in Zukunft Spatel und Ausscheidungsbriefchen, damit sie ihre unverdächtige Darmflora nachweisen können. Der Gang zur Toilette im Flugzeug muss drei Wochen vor Abflug schriftlich angemeldet werden, damit das Shit-Flag in den Passenger Name Records (PNR) gesetzt werden kann.

*** Wo waren die Leser nochmal stehen geblieben in diesem jahreszeitlichen WWWW-Wirbel? Achja, die Frage nach der Piratenpartei war es wohl. Die Vorstellungen zum Urheberrecht, die die Piraten haben, klingen für Urheber bedrohlich. Da gibt es den fairen Ausgleich für meine Arbeit, aber auch die "faire Rückführung in den öffentlichen Raum". Aber was ist fair? Die Wikipedia in ihrer majestätischen Volksrelevanz kennt nur Fairness und spricht von einem Begriff, der in Sport, Recht und Informatik benutzt wird. In der Informatik, belehrt mich IBMs Fachwörterbuch, spricht man von fair value und meint einen Verkehrswert. Die Nachhilfe in Sachen Urheberrecht bleibt seltsam vage. Ja, Kultur ist Arbeit, Kultur muss produziert werden, täglich aufs Neue, von Menschen, die von ihrer Arbeit leben wollen. Wer da wie in den Leserbriefen zurückblafft, dass diese Kultur offenbar nur dann etwas wert sei, wenn damit bares Geld verdient werden kann, hat einen Enterhaken in der Birne. Genau: This is not a love song.

Was wird.

Schade, dass meine Prognosen so schlecht waren: "Twitter kauft Digg. Facebook kauft Twitter. Google kauft Facebook ..." Google hat Firmen wie Etherpad, Teracent und Gizmo gekauft, immerhin. "Google kauft" ist schon einmal eine solide Vorhersage. Ich leiste mir noch eine: 2010 wird das Jahr, in dem Internet-Ă–konomen Kontakt aufnehmen mit der Realität, in dem das Gerede von der Aufmerksamkeitsökonomie abebbt. In der deutschen Wikipedia ist der Begriff offenbar schon gelöscht, so verlinke ich zum Mutterschiff, wo der Blödsinn noch zu lesen ist, dass Aufmerksamkeit ein rares Gut ist. Bereits im Jahre 1906 fĂĽhrte der Philosoph Fritz Mauthner in seiner Psychologielehre aus, dass Aufmerksamkeit und Zerstreutheit den gleichen menschlichen Zustand bezeichnen. Modern gesagt: Wir können zerstreut hunderte von Webseiten besuchen, ohne im Geringsten die eigene Ressource Aufmerksamkeit zu verknappen. FĂĽr Mauthner ist es das Gedächtnis, das den Menschen munter zwischen beiden Zuständen hin- und herschlittern lässt. Am kommenden Montag soll in Dubai zwischen Pleite und WĂĽste der höchste Wolkenkratzer der Welt eröffnet werden, als Adresse in der Aufmerksamkeitsökonomie. Man könnte auch von einem Mahnmal der Dummheit sprechen.

Wenn überhaupt von einer Währung im Netz gesprochen werden kann, dann sind es die Kosten der Ausgrenzung. Fast alle sind im Netz und so ist das Gerede von einer Kluft allein durch Netzzugang zumindest in den Staaten der ersten Welt großer Unsinn wie die Aufmerksamkeitsökonomie. Stattdessen wird das Ausgrenzen immer wichtiger: Es wird Menschen geben, die vor Stoppschildern stehenbleiben und andere, die einen alternativen DNS bemühen. Es wird Nutzer geben, die Googles Antworten oder Wikipedias Einträge als bare Münze für das Wissen der Welt halten, und andere, die wissen, dass nur ein Ausschnitt präsentiert wird mit soviel Wahrheit wie die letzte Seite der tageszeitung. Die Ausgrenzung arbeitet subtil, aber manchmal, da wird sie deutlich sichtbar, die neue Barbarei. Sie beherrscht Twitter, Facebook, bedient die Mail und stellte ihre Veröffentlichungen transparent ins Netz: Damit erfüllt unsere neue Familienministerin eigentlich die Forderungen des Chaos Computer Clubs. Weil sie in einem Ausbruch die Würde des Clubs pangalaktisch beleidigt hat, wird belustigt auf dem Kongress mit Hilfe von Bild konstatiert: "Im Internet lesen genügt nicht." Ha ha.

Was bleibt fĂĽr 2010, mag ein Gedicht ausdrĂĽcken, das einer auch schon vor rund 50 Jahre geschrieben hat, und das die mĂĽndige Mediennutzung gegen den heutigen Mediennudismus stellt.

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
sie sind genauer. roll die seekarten auf,
eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.
der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor
schlagen und malen den neinsagern auf die brust
zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:
das viertel wechseln, den pass, das gesicht.
versteh dich auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung. nützlich
sind die enzykliken zum feueranzĂĽnden,
die manifeste: butter einzuwickeln und salz
für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,
in die lungen der macht zu blasen
den feinen tödlichen staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

(jk)