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Was war. Was wird.

Marken-Bewusstsein? Wer den Begriff erfunden hat, gehört ... ach, lassen wir das, zuckt Hal Faber die Schultern: Marke-Sein ist auch eine Art Bewusst-Sein, und wenn es nur das eines Fanboys, eines Proselyten ist. Blasmusik hilft dagegen.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Wenn diese kleine Wochenschau im Internet auftaucht, ist draußen im echten, im einzigen Leben, das wir haben, viel passiert. Man denke nur an die Menschenkette zwischen den AKW Krümmel und Brunsbüttel, für die ich vergeblich mein Kettenbändchen in der Reliquientruhe gesucht habe. Eine überfällige Kettenreaktion auf das unsägliche Lavieren in der Atomkraftpolitik, verbunden mit der Aufdeckung der Gorlebenlüge durch Dokumente, die Greenpeace befreit hatte: Vielleicht macht das Beispiel Wikileaks Mut.

*** Geschichte wird auch der erste Augmented Reality Flashmob in Amsterdam auf dem Dam sein, während die Feuer des Ashmobs hier und da noch glimmen dürften. Grillen gegen Island, das ist der Würstchen gewordene Protest gegen eine Gesellschaft, die sich einer Simulation auf schmaler Datenbasis unterworfen hat und auf einmal flügellos dastand. Bemerkenswert am ganzen Debakel: Die zuständige ICAO der UNO, deren Erlasse völkerrechtlichen Charakter haben, wie bei Regelwut um die elektronischen Reisepässe zu sehen ist, hat keine Grenzwerte für Partikelkonzentrationen ausgegeben. Soviel zum Thema Sicherheit.

*** Natürlich ruft so eine Kritik an der Simulation und ihren Daten die Kritiker der Kritiker auf den Plan, die Forscher, die auf kleinster Datenbasis große Interpretationen machen. Seit der re:publica verehren die Aktivisten der deutschen Social-Web-Szene den Unternehmensberater Peter Kruse für seine Kunststücke. Schließlich hat er mit seiner Firma nach der Befragung von 100 Deutschen für die Bertelsmann-Stiftung herausgefunden, was jeder Netizen weiß: " 96 von 100 Deutsche sind der Meinung, dass die Menschen in Deutschland betrogen und fehlinformiert werden." Als Grund wird genannt, dass unser Leben immer stärker vom Lobbyismus geprägt wird und dieser noch in 10 Jahren wie ein Grauschleier über allen politischen Entscheidungen liegt. Das "computerunterstützte Verfahren", das diese kollektiven Wertemuster errechnete, macht leider keine Angaben, warum die Deutschen nicht Lobbycontrol die Bude einrennen oder wenigstens häufiger die Nachdenkseiten aufsuchen, wo man regelmäßig kluge Gedanken zu der Lobbymacht lesen kann.

*** "Kleine Datenbasis" rufen auch entrüstet die Kritiker des Kölner Stadtanzeigers, der mit einer Omniquest-Umfrage Dampf in den wolkigen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen bläst: Eine Mehrheit für Rot-Grün, eine Alternative zum Arbeiterführer Rüttgers, der so tapfer den Verlust von Arbeitsplätzen bedauern kann, wird sichtbar. Wahrscheinlich ist an dieser Hochrechnung eine indische Software schuld, die in Bangalore von Hindu-Kindern zusammengefrickelt wurde. Das wäre gewissermaßen Reinkarnation 2.0 in der Politik. Noch ist nicht aller Tage Abend und so finden sich bei Rüttgers tatsächlich Sympathien für die Piraten, die sich diesmal als Verbraucherschützer getarnt ans Kentern machen und vor allem für die wackeren Westfalen aus Münster. Sie wollen den Stamm der aufrecht-preußischen berg/bauernden Westfalen von den luschigen Rheinländern abtrennen, die nur Karneval auf die Reihe kriegen, beim Ausschachten der U-Bahn pfuschen und seltsame Biere brauen.

*** Eines der schönsten Computerbücher ist der Fotoband "Defying Gravity" von Doug Menuez. Lange bevor die Fanboys von Apple mit ihrem hysterischen Marken-"Bewusstsein" die Szene betraten, hat Menuez minutiös die Entstehung des Apple Newton mit seiner Kamera begleitet. Wir sehen, wie die Prototypen fest an Labortische geschraubt sind, wie die Entwickler in einem Haus kaserniert werden und lesen, wie einer von ihnen deshalb Selbstmord begeht. Die wundersame Geschichte um Apple und Gizmodo, komplett mit Downfall-Mashup (wieder gesperrt), mit Biergärten, deutschem Bier und dokumentierter Hehlerei ist zweifelsohne ein neuer Höhepunkt im Marketing von Apple, die Gläubigen für den nächsten Einkaufsrausch in Stimmung zu bringen. Journalistische "Marken", die ihr Hirn längst durch Apfelmus ersetzt haben, begeistern sich für die Partnerschaft München-Cupertino. Tipp von Amazon: Wer diese Story glaubt, glaubt auch an das Märchen vom Klapperstorch. Während in Berlin über die Zukunft der elektronischen Gesundheitskarte verhandelt wurde und nur ein klitzekleines Detail wegen des Wahlkampfs in NRW freiwillig vergessen wurde, fiel eine rundum gelungene Aktion von Microsoft aufmerksamkeitstechnisch unter den Tisch: In der Berliner Kalkscheune feierten die Sieger des deutschen Imagine-Cup-Wettbewerbs 2010 mindestens so heftig wie die re:publikaner. In der Kategorie Software Design gewann wieder einmal die TU Dresden mit dem Gesundheits-Internetportal Mediator vor weiteren Lösungen wie SanCuration, die die Medizin verbessern wollen. Schützend hält Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel seinen Schirm über die neuen Exportschlager, die erst einmal nach Warschau fahren dürfen. Mögen sie nicht auf harte Konkurrenz stoßen, die mit leckeren Hirschhornkäferlarven den Hunger in der Welt bekämpfen und damit die Preise einheimsen.

*** Bekanntlich kämpfen unsere Soldaten in Afghanistan für etwas, das in Deutschland Frieden genannt wird, anderswo nur als möglichst einfacher Abzug gehandelt wird. In dieser Situation ist eine studentische Mindmap aus Potsdam besser als alle gegelten Aussagen, Auge um Auge. Meine Sympathie ist mit den deutschen Soldaten, die sich I Fight for Merkel als Aufnäher besorgen und tragen. Sollte diese Geschichte stimmen, wird die Wahrheit schon lange nicht mehr am Hindukusch verteidigt.

*** Noch steckt der Text des CCC-Mitgliedes Frank Rieger hinter einer Paywall, doch das Konzept des Datenbriefes, das er im Blatt noch einmal erläutert, soll einen Weg ins Bundesinnenministerium gefunden haben. Natürlich gibt es Spötter, die diesen Brief für ausgemachten Schwachsinn halten. Wenn der Datenbrief dabei hilft, dass sich Firmen Gedanken darüber machen, ob man nicht mit ein "bisschen weniger Suchgenauigkeit oder etwas wilderen Buchempfehlungen" leben kann, ob man auf Daten verzichten kann, weil die Auskunftskosten und das Drumherum die Sache nicht wert sind, dann hat er sich schon gelohnt und war das Nachdenken über eine solche Konstruktion, sein Porto wert. Neben den Spöttern gibt es immerhin auch die Naiven, die nur darauf warten, mit Facebook, Google und Amazon endgültig die Kontrolle zu verlieren und in ihrem schrecklichen Deutsch radebrechen: "Es gilt die Situation schonungslos zu erfassen und sich emanzipative Strategien zu entwickeln, die den CTRL-Verlust managen, ohne ihn rückgängig machen zu wollen." Die Leute, die glauben, nicht von Algorithmen erfasst werden zu können, weil sie keinen 9to5-Normaljob machen, sind ganz nach Orwell wirklich arme Schweine, wenn sie verächtlich über die Normaljobber erhaben sind und verkünden: "Sie sind also nur deswegen berechenbar, weil sie einer gesellschaftlichen Norm nacheifern. Für mich würde diese Software also keine verlässlichen Einschätzungen treffen können."

*** Eine richtig anstrengende Woche will sanft verabschiedet werden. Wie wäre es mit einer mashup-gestärkten Mondscheinsonate komplett mit Troll-Kommentaren? Oder soll es, ganz im Sinne von Hal 9000 lieber ein rauschender Walzer an der schönen blauen Donau sein? Ach, was. Flüchten wir uns lieber in etwas zünftige   Blasmusik, gern auch mit etwas   Bayern-Punk und bayerischem Techno vermischt.

Was wird.

De-Mail, der neuen Personalausweis und der fiese Identitätsdiebstahl sind die Themen, die in der nächsten Woche ein BSI-Symposium behandelt. Vergeblich wird man das Wort Leuchtturmprojekt suchen, das nacheinander an das System der LKW-Maut, die elektronische Gesundheitskarte und schließlich den Personalausweis getackert wurde, denn diese Projekte senden Signale, dass Dinge unrund laufen: Leuchttürme waren dafür bekannt, dass sie einst kräftige Lichtstrahlen sendeten, aber keinen Rückkanal besaßen. Das beschreibt die deutsche Misere besser als lange Ausblicke. Ob unsere Nachbarn besser dran sind, ist nicht nur mit Blick auf Griechenland die große Frage. Belgien und die Niederlande kriseln. Ob die Wahl in Großbritannien wirklich nur die Wahl zwischen Blackberry und iPhone ist? Auf mehrfachem Wunsch meiner Leser werde ich nur noch positiv denken. Man muss einfach nur das richtige Auge für die richtigen Fortschritte haben. Wie wäre es mit diesem Faktoid hier: SCO Deutschland ist in Bad Homburg umgezogen. Die huch, huch, ach so skandalösen WLAN-Angaben vor Ort werden nachgereicht. (jk)