Starkes Signal für die Rechte von Arbeitnehmern: Der Fall "Emmely" und seine Folgen

Nach dem Sieg der Kassiererin "Emmely" vor dem Bundesarbeitsgericht, wurde erneut eine fristlose Bagatell-Kündigung gekippt. Rechtsanwalt Dr. Christian Salzbrunn erklärt, welche Signalwirkungen mit dem Urteil aus dem Emmely-Fall für die Rechtsprechung verbunden sind.

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Von
  • Marzena Sicking

Kaum ein arbeitsrechtliches Thema hat die öffentliche Diskussion in den letzten Monaten so geprägt wie die Debatte um die fristlosen Kündigungen aufgrund von Diebstählen geringwertiger Sachen. Vorreiter in dieser Diskussion war der so genannte Fall "Emmely", der vom Bundesarbeitsgericht am 10.06.2010 in letzter Instanz entschieden wurde (Az: 2 AZR 5341/09). Auf dieses Urteil berief sich jetzt auch das Landesarbeitsgericht Hamm in einer aktuellen Entscheidung: Die Richter erklärten die fristlose Kündigung eines Mitarbeiters für unwirksam, der ohne Rücksprache seinen Elektroroller im Betrieb aufgeladen und so einen Schaden von 1,8 Cent verursacht hatte (LAG Hamm, Urteil vom 02.09.2010, Az. 16 Sa 260/10).

Diese zwei Fälle waren aber nicht die einzigen, die in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit als "Bagatellkündigungen" bekannt und zum Teil sehr politisch und auch sehr kontrovers diskutiert wurden. So wehrte sich vor dem LAG Baden-Württemberg der Mitarbeiter eines Abfallentsorgungsunternehmens erfolgreich gegen seine fristlose Kündigung: er hatte ein weggeworfenes Kinderreisebett mitgenommen (Urteil vom 10.02.2010, Az.: 13 Sa 59/09). Ein Bäckerei-Angestellter klagte gegen seine Kündigung, die mit dem unbefugten Verzehr von Brotaufstrich auf einem (von ihm gekauften) Brötchen begründet wurde (LAG Hamm, Urteil vom 18.09.2009, Az.: 13 Sa 640/09). Auch hier wurde die Kündigung für unwirksam erklärt. Ebenso der Fall einer Altenpflegerin, die ihre Arbeitsstelle verlieren sollte, weil sie sechs übrig gebliebene Maultaschen mitnahm (ArbG Lörrach, Urteil vom 16.10.2009, Az.: 4 Ca 248/09, die Parteien schlossen in der Berufungsinstanz einen Vergleich), wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. In der Regel überwog bei dieser Diskussion die Empörung über die Unverhältnismäßigkeit solcher fristlosen Kündigungen.

Tatsächlich sahen die Arbeitsgerichte aber bis zum Fall "Emmely" einen geringen Sachschaden dennoch durchaus als berechtigten Kündigungsgrund an. Dabei orientierte sich die Rechtsprechung der Instanzgerichte bei der Frage der Rechtmäßigkeit von solchen Bagatellkündigungen an dem so genannten "Bienenstichfall" aus dem Jahr 1984 (BAG, Urteil vom 17.05.1984, Az.: 2 AZR 3/83). Damals hatte das Bundesarbeitsgericht die fristlose Kündigung einer Bäckereiverkäuferin bestätigt, die ohne vorherige Erlaubnis und ohne Bezahlung ein Stück Bienenstich verzehrt hat. Das BAG begründete die Entscheidung damit, dass nicht der materielle Wert des entwendeten Guts entscheidend sei, sondern der mit der Tat verbundene Vertrauensbruch. Mit dem Fall "Emmely" hat das Bundesarbeitsgericht diese bisher verfolgte und recht eindeutige Haltung aufgegeben.

Zur Erinnerung: Bei diesem Fall ging es um eine 50-jährige Mutter von drei Kindern, die seit 31 Jahren als Verkäuferin und Kassiererin für ein Unternehmen tätig war. Am 12.01.2008 hatte ihr der Filialleiter zwei Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro übergeben, die ein Kunde im Laden verloren hatte. Die Mitarbeiterin sollte diese an der Kasse aufbewahren, für den Fall, dass der Kunde zurückkommen und sich danach erkundigen sollte. Die 50-Jährige hielt die Bons zehn Tage lang vor und löste sie dann selbst bei einem privaten Einkauf ein. Nachdem die Geschäftsleitung davon gehört hatte, wurde der Frau – ungeachtet des Widerspruchs durch den Betriebsrat – fristlos gekündigt. In dem Prozess bestritt die Kassiererin zunächst, die Pfandbons an sich genommen zu haben und tätigte zur Erklärung, wie diese Bons letztlich in ihr Portemonnaie gelangt seien, mehrere in sich widersprüchliche Aussagen. Sie versuchte dabei auch, andere Mitarbeiter zu belasten. Allerdings erwiesen sich ihre Erklärungen letztlich als unzutreffend. Das Arbeitsgericht Berlin wies ihre Kündigungsschutzklage zunächst ab. Auch die hiergegen eingelegte Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hatte keinen Erfolg, erst vor dem Bundesarbeitsgericht wurde die Kündigung für unrechtmäßig erklärt.

In ihrer Urteilsbegründung wiesen die Richter des BAG ausdrücklich darauf hin, dass die Rechtsmäßigkeitsprüfung von Bagatellkündigungen – wie bei jeder fristlosen Kündigung – in zwei Schritten zu erfolgen habe. Zunächst müsse geprüft werden, ob ein "an sich" geeigneter Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung bejahten sie dies auch für diesen Fall. Sie betonten, dass eine fristlose Kündigung bei einem vorsätzlichen Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten gerechtfertigt sein kann, auch wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden für den Arbeitgeber gering sei.

Allerdings müsse bei außerordentlichen Kündigungen gem. § 626 Abs. 1 BGB auch überprüft werden, ob dieser Grund "unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter der Abwägung aller Interessen beider Vertragsteile" eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann. Im Rahmen dieser Einzelfallbeurteilung seien das Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung bereits erworbene "Vertrauenskapital" und die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes gegeneinander abzuwägen. Insgesamt müsse sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als eine angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Dies sei nach Ansicht der Richter dann nicht der Fall, wenn eine Abmahnung ausreichen würde, um künftig einen störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken und das Vertrauen in die Redlichkeit des Arbeitnehmers wieder herzustellen.

Im Rahmen dieser Interessenabwägung befanden die Richter die fristlose Kündigung der Kassiererin für nicht gerechtfertigt. Zugunsten des Arbeitgebers werteten die Richter zwar, dass das Fehlverhalten der Kassiererin den Kernbereich ihrer Arbeitsaufgaben betraf und damit zu einem erheblichen Vertrauensverlust führte. Auch wurde berücksichtigt, dass Einzelhandelsunternehmen besonders anfällig dafür sind, durch viele kleine Schädigungen in der Summe hohe Einbußen zu erleiden. Schwerer wog für die Richter letztlich jedoch der Umstand, dass die Kassiererin seit mehr als 30 Jahren beanstandungslos für das Unternehmen tätig gewesen war. Dieses "Vertrauenskapital" sei durch das einmalige Fehlverhalten nicht völlig zerstört worden. Zudem wiesen die Richter darauf hin, dass die Firma eine nur sehr geringfügige wirtschaftliche Schädigung erlitten habe, wohingegen der Kassiererin mit der außerordentlichen Kündigung sehr schwerwiegende Einbußen gedroht hätten.

Dr. Christian Salzbrunn arbeitet als Rechtsanwalt in Düsseldorf. Seit 2006 betreibt er eine eigene wirtschaftsrechtlich ausgerichtete Anwaltskanzlei. Zu den Tätigkeitsschwerpunkten der Kanzlei zählen das Arbeitsrecht, der Gewerbliche Rechtsschutz und der Einzug von offenen Forderungen. Überwiegend jedoch berät und vertritt Herr Dr. Christian Salzbrunn mittelständische Unternehmen und Arbeitnehmer bundesweit auf dem Gebiet des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

Damit brachen die BAG-Richter mit ihrer langjährigen Linie, wonach der geringe Wert der gestohlenen bzw. unterschlagenen Sache und eine beanstandungslose langjährige Beschäftigung bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung keine entscheidende Rolle spielen. Vielmehr stellten die Richter fest, dass bei einem geringen wirtschaftlichen Schaden eben nicht automatisch von einem vollständigen Vertrauensverlust gesprochen werden könne. Vielmehr müsse die Geringfügigkeit des Schadens im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten eines Arbeitnehmers berücksichtigt werden. Im Fall "Emmely" kamen sie daher zu dem Urteil, dass eine Abmahnung als Reaktion ausreichend gewesen wäre (BAG, Urteil vom 10.06.2010, Az.: 2 AZR 541/09).

Die vorliegende Entscheidung des BAG wird es Arbeitgebern in der Zukunft nicht einfacher machen, Arbeitnehmern wegen eines Bagatelldeliktes fristlos zu kündigen. Zwar sind solche Kündigungen nach wie vor nicht kategorisch ausgeschlossen. Allerdings muss vor dem Ausspruch einer fristlosen Kündigung im Rahmen der Interessenabwägung ein jahrelang unbeanstandetes Arbeitsverhältnis und ein geringer wirtschaftlicher Schaden des Arbeitgebers nun stärker zugunsten des Arbeitnehmers in die Waagschale geworfen werden, als dies bisher der Fall war. Auf solche Fallkonstellationen werden Arbeitgeber künftig bei der Erstbegehung tendenziell nur mittels einer Abmahnung reagieren können. Erst im Wiederholungsfall wird dann eine fristlose Kündigung in Betracht kommen können. Die neue Rechtsprechung des BAG schiebt also einen Riegel davor, eine Bagatellkündigung zum Vorwand zu nehmen, um sich von einem ungeliebten Mitarbeiter, der auf einem anderen Weg kaum zu kündigen ist, vorschnell zu trennen. (map)
(masi)