MIT Technology Review 6/2019
S. 63
TR Mondo

FINNLAND

Häftlinge trainieren eine KI

Vainu-Geschäftsführer Tuomas Rasila.

Jede künstliche Intelligenz braucht ein gutes Training. Das finnische Start-up Vainu hat für seinen Maschinenlern-Algorithmus nun ungewöhnliche Unterstützung angeheuert: Die Helfer sitzen in Helsinki und Turku hinter Gittern. Das Unternehmen betreibt eine digitale Geschäftspartner-Vermittlung und verfügt dafür über eine weltweite Unternehmensdatenbank mit mehr als 108 Millionen Profilen. Sie soll per KI kontinuierlich gepflegt und ausgebaut werden. Damit der Computer weiß, was er tun muss, gehen Häftlinge am Computer massenhaft finnische Texte über Unternehmen aus dem Internet durch und indizieren sie: Handelt es sich im Text bei dem Wort „Apple“ um das Unternehmen oder die Frucht? Sie beantworten dazu auch Fragen wie „Geht es in diesem Artikel um eine Geschäftsübernahme?“. Mit den klassifizierten Daten wird dann der Algorithmus gefüttert.

Vainu-Geschäftsführer Tuomas Rasila kam nach eigenen Angaben zufällig auf die Idee, diese Arbeit in Gefängnisse auszulagern. Zuerst hatte er bei Amazons Auftragsvermittlungsplattform Mechanical Turk versucht, Helfer für die Textanalysen zu rekrutieren. Doch das half nur bei englischen Texten, denn hier suchen hauptsächlich Menschen aus den USA nach Jobaufträgen. Auf der Suche nach finnischsprachiger Unterstützung fiel ihm auf, dass im selben Bürogebäude, in dem Vainu seinen Geschäftssitz hat, auch die finnische Gefängnisbehörde sitzt.

Die zeigte sich offen für die Idee, knapp 100 Häftlinge für diese Aufgabe auszuwählen, und wirbt inzwischen damit, dass die Kooperation für die Gefängnisinsassen eine Möglichkeit zur Weiterbildung sei. Das Arrangement sei zudem auch deshalb attraktiv für die Behörde, weil das Risiko gering sei, dass die Häftlinge bei der Arbeit gewalttätig werden. Computer lassen sich nicht so leicht zu Waffen umbauen.

Computerarbeit im Gefängnis ist neu – und umstritten. Foto: Trond H. Trosdahl/AFP/Getty Images

Kritiker der Kooperation werfen Vainu allerdings vor, die Häftlinge auszubeuten. Das Unternehmen gibt zwar an, dass die Gefängnisse den Verdienst festgelegt hätten und dieser ähnlich ausfiele wie bei Mechanical Turk. Dort liegen die Honorare im Schnitt jedoch bei gerade einmal zwei Dollar pro Stunde. Sarah Roberts von der University of California, die Informationsarbeit erforscht, bezweifelte zudem gegenüber dem Online-Nachrichtendienst „The Verge“, dass die Häftlinge nützliche Fähigkeiten durch die Textverarbeitung erwerben. „Die Aufgaben sind reine Routine, sehr einfach und immer dasselbe.“

VERONIKA SZENTPÉTERY-KESSLER

USA

Millionen für CO2-Luftschlösser

Ein Waldbrand setzt über Jahrzehnte in Holz gespeichertes CO2 wieder frei – ein Fallstrick im Zertifikatsgeschäft. Foto: Danita Delimont u. Gerry Reynolds/Interfoto

2013 führte Kalifornien ein Emissionshandelssystem ein. Es begrenzt die Gesamtmenge an Treibhausgasen, die einzelne Industriesektoren ausstoßen dürfen. Unternehmen können Zertifikate kaufen oder verkaufen. Da die Ausstoß-Obergrenze mit der Zeit immer weiter sinkt und damit der Preis pro ausgestoßener Tonne CO2 steigt, sollte ein Anreiz entstehen, Emissionen zu vermeiden und neue Technologien zu entwickeln.

Nun zeigt sich, dass Hunderte Millionen Dollar wohl zu Unrecht ausgeschüttet wurden. CO2 -Emittenten können Zertifikate von CO2 -Ausgleichsprojekten kaufen, die eine Treibhausgas-Reduktion versprechen. So ging viel Geld an Landbesitzer für Aufforstungsprojekte. Bei dem „US Forest Projects“-Programm etwa dürfen Holzproduzenten, Indianerstämme und andere private Landbesitzer Zertifikate verkaufen, wenn sie selbst Bäume pflanzen oder andere Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen ergreifen. Sie können zum Beispiel Pläne zum Abholzen stoppen oder Wälder so bewirtschaften, dass sie mehr Kohlenstoff speichern. Über das „US Forest Projects“-Protokoll des kalifornischen Air Resources Board (ARB) wurden mehr als 80 Prozent aller Zertifikate ausgegeben.

Doch viele Projekte werden ihre Einsparungsziele womöglich nie erfüllen. Kalifornien hat Zertifikate für Projekte erteilt, deren Prognosen um bis zu 80 Millionen Tonnen CO2 zu hoch liegen könnten, schreibt Barbara Haya vom Center for Environmental Public Policy der University of California in Berkeley in einer Studie. Das wäre ein Drittel der gesamten Einsparungen, die das Programm in den nächsten zehn Jahren erreichen sollte.

Ein Problem ist etwa, wenn ein Holzunternehmen zunächst das Abholzen in einem Gebiet reduziert, aber die Marktnachfrage an anderer Stelle zu verstärktem Abholzen führt. Diese Verschiebemechanismen, die keine echte Emissionsreduktion bewirken, machen laut den Behörden 20 Prozent aus und seien eingerechnet. Haya liegen allerdings Daten vor, die auf etwa 80 Prozent solcher Ausweichmanöver hindeuten. Zudem erhalten Landbesitzer Ausgleichsgutschriften, die ihnen ein Überschreiten der staatlichen Emissionsgrenzwerte erlauben, wenn sie versprechen, 100 Jahre Kohlenstoffdioxid zu sammeln. Allerdings sind viele der versprochenen Einsparmaßnahmen nicht realistisch. Zum einen lagern alternde Wälder immer weniger Kohlenstoff ein, sind selbst von Klimaschäden betroffen und setzen das eingelagerte Kohlendioxid bei Waldbränden wieder frei. Zum anderen lassen sich Landbesitzer offenbar auch dann für Bestandsschutz bezahlen, wenn sie gar nicht planen, ihre Bäume abzuholzen. Insgesamt wurden mehr als 80 Prozent der ARB-Zertifikate für Waldprojekte vergeben, die keine „echten Emissionsminderungen" erreichen werden, sagt Barbara Haya.

Ihre Erkenntnisse widersprechen damit einer Studie der Universität Stanford von 2017. Sie bescheinigte dem Programm zu wirken. Denn 64 Prozent der Projekte, die Zertifikate für „verbesserte Waldbewirtschaftung“ beanspruchten, holzten beim Programmstart oder zuvor aktiv ab – konnten also glaubhaft machen, dass sie die Rate reduzieren würden. Allerdings gehörte ein Viertel dieser Projekte gemeinnützigen Organisationen, die „ohnehin nicht daran interessiert sein dürften, ihren Wald wirtschaftlich zu nutzen“, so Haya. Der Staat habe „Regeln aufgestellt, die zu falscher Zertifizierung einladen“, bei der „die Waldbesitzer einfach mitspielen“.

Rajinder Sahota, der stellvertretende Leiter des ARB-Vorstands, kündigte für dieses Jahr eine öffentliche Überprüfung des Forstprotokolls an. Die ARB werde im Lichte von Hayas Kritik neuere Studien, etwa über das Ausmaß der Verschiebepraktiken, prüfen. Zudem will die Behörde auch Forscher, den US Forestry Service und andere Experten konsultieren.

JAMES TEMPLE