MIT Technology Review 6/2019
S. 3
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Neuerdings ist eine großartige Strategie im Internet zu beobachten: Werbetreibende provozieren bewusst einen Shitstorm, um Aufmerksamkeit auf eine Marke zu lenken. Zu beobachten etwa bei der jüngsten Muttertag-Werbung der Supermarktkette Edeka, die Väter als ziemliche Trottel dastehen ließ. Inzwischen kommt der YouTube-Spot auf 55200 Dislikes bei gerade einmal 12400 Likes – aber eben auch auf fast 2,1 Millionen Aufrufe.

Produziert hat ihn die Agentur Jung von Matt, und es kann natürlich sein, dass sie einfach nur naiv in die Social-Media-Falle getreten ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Schöpfer das Mediengeschehen sehr genau beobachten – und dann ganz gezielt den Erregungsknopf gedrückt haben. So haben sie die Shitstorm-Truppe zu Marketing-Sklaven gemacht, sie haben mit ihrer Hilfe erreicht, was diese unbedingt verhindern wollten: werbewirksame Aufmerksamkeit für ihr Hassobjekt. Besser kann man die Erregungskultur im Internet nicht ad absurdum führen, auch wenn das kaum der Hintergrund der Kampagne gewesen sein dürfte.

Zu hoffen wäre nun, dass der eine oder andere im Zuge dieser Entwicklung überlegt, welche Inhalte wirklich eine Erregung wert sind – und welche unsere Emotionen nur missbrauchen. Einem zivilisierten Internet würden wir damit einen großen Schritt näher kommen. Wer fragt, wie das Internet zu reparieren ist, kann eben nicht nur über Monopole, Datenmissbrauch und Cyberkriminalität diskutieren, er kann nicht nur technologisch und juristisch argumentieren, sondern muss eingestehen, dass viele Probleme im Web menschlicher Natur sind. Im Fokus ab Seite 66 haben wir aufgeschrieben, wie wir mit dieser Gemengelage am besten umgehen. Schließlich ist das Internet zu wertvoll, um es den Verführern zu überlassen, sitzen sie nun im Marketing oder in der Politik.

Ich begrüße Sie in unserer Juni-Ausgabe.

Ihr

Robert Thielicke

Unterschrift