Deutschland: Fehler Spaniens nicht wiederholen

Durch die Corona-Krise geprägte Kabinettssitzung der spanischen Regierung (im Vordergrund links Pedro Sánchez) am 17. März 2020. Bild: Pool Moncloa/J. M. Cuadrado/Regierung von Spanien (Ministry of the Presidency. Government of Spain)

Kommentar: Spanien hat italienische Fehler wiederholt und zum Teil noch fataler gehandelt, daraus muss gelernt werden, um ein Hochschnellen der Todeszahlen zu vermeiden

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Seit Tagen erklärt der spanische Gesundheitsminister, dass Spanien den Höhepunkt der Coronavirus-Krise erreicht hat. So auch am Donnerstag: "Wir haben den Höhepunkt der Kurve erreicht, die Abschwächung beginnt", erklärte Salvador Illa. Diese Aussage passt allerdings nicht damit zusammen, dass Spanien am Donnerstag neue Rekorde verzeichnete.

Das Land ist dabei, Italien den traurigen Spitzenplatz in Europa abzunehmen, was an dieser Stelle bereits angedeutet wurde. Am Mittwoch verzeichnete Spanien offiziell 950 neue Tote. Dazu wurde die Marke von 10.000 Todesfällen überschritten. So viele Tote an einem Tag hatte Italien mit 969 Toten am vergangenen Freitag als Rekord, seither geht es tendenziell bergab.

Offiziell meldete die spanische Behörde für gesundheitliche Notfälle (CCAES) am Donnerstag die Zahl von 110.000 Infizierten. Das wäre vor wenigen Wochen noch als Fantasterei erschienen. Und: Damit hätte Spanien eine absurd hohe Sterblichkeit von fast 10% - in Madrid würde sie sogar bei fast 14% liegen. Das liegt ein Vielfaches über der realen Letalität des Virus, die in Deutschland bei einigermaßen realen 1,2% liegt.

Fachleute rechnen deshalb die Zahl der Infizierten anhand der Todeszahlen hoch, um auf eine halbwegs "vernünftige" Größe zu kommen. So kalkulieren einige Forscher mit dem Faktor 200 und gehen deshalb davon aus, dass es real eher 2 Millionen Infizierte sind. Das renommierte - aber in seinen Publikationen zu Covid-19 auch umstrittene - Imperial College London sieht die Zahl der mit dem Virus Sars-CoV-2 Infizierten in elf europäischen Ländern bis zum 28. März in einem weitgespannten Schätz-Rahmen zwischen 7 und 43 Millionen Personen.

In Spanien wird der Anteil der Infizierten an der Bevölkerung am höchsten eingeschätzt, heißt es in der Publikation vom 30. März. Das bestätigt die Befürchtung, dass wegen der massiven Fehler der spanischen Regierung die weitere Entwicklung noch schlimmer als in Italien werden könnte.

Wenn Gesundheitsminister Illa, die CCAES und der unfähige Krisenstab, dessen Rücktritt Experten seit drei Wochen fordern, nun vom Abflachen der Kurve sprechen, kommt einem der bekannte Ausspruch von Winston Churchill in den Sinn: "Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe."

Dass einem die Zahlen hochgradig "spanisch" erscheinen, kommt nicht von Ungefähr. Der Minister und seine Beschwichtiger im Krisenstab berufen sich beim angeblichen "Abflachen der Kurve" allein auf die Zahl der neu festgestellten Infektionen. Das hat seine Eigentümlichkeit, weil in Spanien fast nicht getestet wird.

Niemand weiß das besser als diese Leute. Denn Illa und seine Truppe verfügen nicht über ausreichende Tests und schaffen es auch nicht, vernünftige Tests zu beschaffen, wie weiter unten beschrieben wird. Man muss also davon ausgehen, dass hier mit Absicht getäuscht und Propaganda von denen betrieben wird, die ständig vom "Krieg" reden und Militärs einsetzen…

Die Tests und die Zahl der Toten

Wie will Spanien Neuinfektionen feststellen, wenn nicht einmal in Krankenhäusern Menschen mit deutlichen Symptomen getestet werden? Deshalb erklärte auch der Intensivstation-Krankenpfleger Eduardo Fernández Ulloa im Telepolis-Gespräch ("Das ist keine Krise, sondern eine Katastrophe"), dass die Zahlen irreal und aufgehübscht sind: "Seit einigen Tagen wird konkret hier in Madrid kein Test mehr bei den Leuten gemacht, die die typischen Symptome zeigen."

Der Mann, der, wie es die New York Times dokumentiert, auf einem "Kamikaze"-Posten arbeitet, weil er ohne ausreichenden Schutz in den Kampf gegen Covid-19 geschickt wurde, weist auch darauf hin, dass die Todeszahlen nur noch "Mondzahlen" sind.

Schon jetzt wurden bei diesen Zahlen die Toten nicht berücksichtigt, die zu Hause oder in Altenheimen gestorben sind, weil auch sie nicht getestet werden.

Eduardo Ulloa

Angesichts dieser Tatsache ist der neue offizielle Rekord von 950 Toten in nur 24 Stunden noch viel erschreckender. Die Dunkelziffer dürfte zudem schon deshalb steil ansteigen, da aus Altenheimen kranke Menschen kaum noch in die überfüllten Krankenhäuser überführt werden - "Triage" im Vorfeld, womit auch die Statistik geschönt wird.

Aber eine rein spanische Spezialität ist die merkwürdige Zählweise wiederum auch nicht. Guido Marinoni, Präsident der Ärztekammer in Bergamo, hat keinerlei Zweifel, dass die Zahl der Todesfälle auch in Italien viel höher ist. Denn auch der Katastrophenschutz, der jeden Tag am späten Nachmittag Daten herausgibt, weist nur die Toten aus, die in Krankenhäusern gestorben sind.

In diesen Daten werden weder diejenigen verzeichnet, die zu Hause gestorben sind, noch die alten Menschen, die in Dutzenden Pflegeheimen gestorben sind.

Guido Marinoni

Kein Wunder, dass der Madrider Pfleger Eduardo Ulloa zur Einschätzung kommt: "Ich gehe davon aus, dass die realen Todeszahlen in Europa so erschreckend hoch sind, dass keine Regierung die realen Zahlen ermittelt."

Italienische Verhältnisse

Auch an den italienische Zahlen sind starke Zweifel angebracht, wie bereits hier erwähnt und aktuell hier beschrieben: In der Lombardei gibt es viel mehr mit Corona verbundene Tote als offiziell gemeldet. Zweifel werden nun auch im öffentlich-rechtlichen deutschen Rundfunk geäußert. "Offenbar mehr Corona-Tote in Bergamo als amtlich angegeben", berichtete der Deutschlandfunk am Mittwoch.

Über Spanien wird in den Sendern der ARD allerdings weiter die Mär vom Abflachen der Kurve wiedergekäut und die Behauptungen der spanischen Regierung unkritisch übernommen.

Bei der Zahl der in Krankenhäusern am Coronavirus gestorbenen Menschen in Italien zeigt sich in der letzten Woche eine Stabilisierung auf hohem Niveau. Das dürfte das Ergebnis dessen sein, dass nun seit fast zwei Wochen die Mehrzahl der Menschen auch nicht mehr zur Arbeit geschickt wird. Am Mittwoch stieg die Zahl des Katastrophenschutzes allerdings erneut auf 760 Tote. Am Vortag war sie auf 727 gefallen.

Offiziell sind laut Johns Hopkins am Donnerstag in Italien 13.915 Menschen am Virus verstorben, Spanien holt immer stärker auf und dürfte auch diese Zahl bald übertreffen. Es finden sich schon jetzt 20 % aller offiziell gemeldeten europäischen Coronavirus-Toten in Spanien.

Wie Italien hat Spanien zu spät reagiert, was noch schwerer wiegt, weil man die Entwicklungen dort aus der Nähe beobachten konnte. In Spanien hat man sogar Fehler zusätzlich gemacht. Sperrte Italien Regionen in Norditalien ab, wurden dagegen in Spanien Ansteckungsherde - allen voran Madrid - nicht abgeriegelt.

Damit wurde dafür gesorgt, dass sich das Virus über das ganze Land verteilen kann, was drastische Folgen zeitigt. Die Isolierung der Ansteckungsherde hätte spätestens mit der ohnehin lange hinaus gezögerten Ausrufung des Alarmzustands vor knapp drei Wochen kommen müssen.

Fehler

Das geschah aber nicht. Zu weiteren Fehlern im Rahmen des Alarmzustands gehört der gravierendste, dass nicht sofort alle Aktivitäten auf eine Grundversorgung reduziert wurden. Das passierte nicht einmal in den Ansteckungsherden wie Madrid.

Die Leute wurden in die Arbeit geschickt - und damit einem erhöhten Risiko der Ansteckung ausgesetzt - und weiterhin konnten Menschen herumfahren und die Ansteckungsherde verlassen. Die einzige Ausnahme bildete das abgeriegelte Gebiet um die katalanische Stadt Igualada.

Auf Basis der verharmlosenden Fehleinschätzung im Vorfeld - nach der irrigen Ansicht des Krisenstabs sollte Spanien nur "eine Handvoll" Fälle bekommen - wurde in Madrid praktisch keine Prävention betrieben und kein Schutzmaterial eingekauft, das Personal im Gesundheitswesen wurde nicht verstärkt.

Groteske "Vorsorge"

Die großspurige Ankündigung Illas vor zwei Wochen, das Personal um 52.000 Personen zu verstärken, nimmt ihm nicht einmal mehr die ihm gütig gesonnene El País ab. Die Zahl eingegliederter "Studenten und Pensionisten ist anekdotisch", resümiert die Zeitung.

Das Handeln des Gesundheitsministeriums ist zusehends grotesk. Nachdem Illa schon bei einer chinesischen Firma, die über keine Lizenz verfügte, 660.000 Tests gekauft hatte, die unwirksam waren, ist er auch nach Angaben von El Pais, die seiner sozialdemokratischen Regierung sehr nahe steht, erneut in die Falle getappt: Nun hat er eine Million Tests gekauft, die erst ab dem 5. oder 6. Tag eine Infektion ermitteln können. Gekauft wurden nicht die PCR-Tests, wofür Bedarf besteht: Denn nur darüber können kleine Mengen des Virus im Blut festgestellt werden und damit zur Früherkennung dienen.

Völlig unverständlich ist, dass nun eine Initiative zum Bau für die dringend benötigten Beatmungsgeräte beim Automobilbauer Seat im katalanischen Matorell die Produktion einstellen musste. Es war wieder mal die längst überbordende berüchtigte Bürokratie im Spiel. Der fast schon tödlich-kriminell agierende Amtsapparat wurde zum Glück korrigiert.

Nach einem massiven Aufschrei in der Öffentlichkeit, kann das Gerät, das mit Bastlern der katalanischen Universitätsklink Can Ruti entwickelt wurde und Scheibenwischermotoren nutzt, nun wieder gefertigt werden. Dass das Gerät funktioniert, hatte es zunächst im Tierversuch und später auch im Einsatz an Menschen schon gezeigt.

Aus Fehlern lernen

Aus den spanischen und italienischen Erfahrungen sollte in Europa gelernt werden. Das erwähnte Imperial College London geht davon aus, dass mit der bisherigen Ausgangssperre, die am Dienstag weiter verschärft wurde, "zwischen 5.400 und 35.000 Leben" gerettet worden seien.

Hätte Spanien frühzeitig auf Grundversorgung umgestellt, wären es mehr geworden. So kommen die Experten zum Schluss, dass durchgreifende Maßnahmen schnell ergriffen werden müssen. Sie plädieren dafür, sie so lange aufrecht zu erhalten, bis die Übertragung auf ein niedriges Niveau sinkt. Auch Frankreich wird wohl kaum darum herumkommen, die Maßnahmen zu verschärfen, da nun offiziell 4500 Tote verzeichnet werden.

Macron verliert wichtige Zeit, weil er spanische Fehler wiederholt. Das Gesundheitssystem ist inzwischen nicht nur im Elsass, sondern auch in der Hauptstadtregion schon am Limit oder darüber. Wer glaubt, dass Deutschland von solchen Entwicklungen verschon wird, der irrt sich meiner Auffassung nach.

Die Debatte, von Wirtschaftsvertretern und dem FDP-Chef Christian Lindner losgetreten, die schon nach einer Woche mit relativ schwachen Maßnahmen eine Lockerung fordert, könnte genau das zunichtemachen, was vielleicht an Eindämmung bisher erreicht wurde. Die Erfahrungen zeigen, dass Verharmloser nicht Recht behalten haben.