EU-Kommission präsentiert "digitale Agenda"

Die Brüsseler Behörde will mit rund 100 geplanten Maßnahmen und 31 Gesetzesvorschlägen einen echten "digitalen Binnenmarkt" für Inhalte und Dienste schaffen, Copyright-Lizenzierungen vereinfachen, "digitalen Jungfrauen" die "Wunder der digitalen Welt" näher bringen und den Breitbandausbau beflügeln.

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Die EU-Kommission will mit einem umfassenden Paket von rund 100 geplanten Maßnahmen und 31 Gesetzesvorschlägen einen echten "digitalen Binnenmarkt" für Inhalte und Dienste schaffen. Das ist das Kernanliegen der "digitalen Agenda" (PDF-Datei) der Brüsseler Behörde, die die für diesen Bereich zuständige Kommissarin Neelie Kroes am heutigen Mittwoch vorgestellt hat. Der Fahrplan zur besseren Nutzung der Potenziale der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) befand sich bereits seit vielen Monaten in der Vorbereitung und deckt sich in weiten Teilen mit der "Granada-Strategie" der spanischen EU-Ratspräsidentschaft.

Die Agenda sieht sieben vorrangige Aktionsbereiche vor. Ein "neuer Binnenmarkt" soll an erster Stelle "die Vorteile des digitalen Zeitalters zur Geltung bringen". Die Bürger müssten über Grenzen hinweg kommerzielle Dienste wie auch Kultur- und Unterhaltungsangebote nutzen können. Wegen fehlender legaler Angebote und fragmentierter Märkte gebe es in den USA heute viermal so viele Musik-Downloads wie in der EU. 54 Prozent der europäischen Internetnutzer kauften oder verkauften zwar Waren über das Internet, allerdings nur 22 Prozent in anderen EU-Ländern.

Die Kommission möchte so den Zugang zu legalen Online-Inhalten öffnen und sich um die Vereinfachung der Klärung von Urheberrechten, der Rechteverwertung und der grenzübergreifenden Lizenzierung bemühen. Bis spätestens 2012 solle die bestehende Empfehlung zur Kooperation von Verwertungsgesellschaften im Musikbereich überarbeitet und in eine Rahmenrichtlinie integriert werden, betonte Kroes. Darin sei sie sich auch mit ihrem für den Binnenmarkt zuständigen Kommissionskollegen Michel Barnier einig, der in diesem Bereich bislang recht vorsichtig agiert. "Verwaiste Werke", für die kein Urheber mehr auszumachen ist, und Informationen der öffentlichen Verwaltung sollen zudem leichter verwertbar werden. Andere Vorhaben betreffen die Erleichterung elektronischer Zahlungen und der elektronischen Rechnungsstellung sowie die Vereinfachung der Online-Streitbeilegung.

Der zweite Handlungsbereich ist mit "Interoperabilität und Standards" überschrieben. Wie bereits im Vorfeld vermutet worden war, hat die Kommission hier die in frühen Entwürfen aufgezeichneten Vorgaben für "offene Standards" deutlich abgeschwächt. "Damit Menschen kreativ sind, Vorhandenes neu kombinieren und Neues einführen, brauchen wir offene und interoperable IKT-Produkte und -Dienste", hält die neue Linie allgemein fest. Behörden sollen nur noch angehalten werden, die volle Bandbreite "relevanter Standards" beim Einkauf von Hard-, Software oder IT-Dienstleistungen auszuschöpfen. Die Free Software Foundation Europe (FSFE) bemängelt daher, dass die "Auslassung offener Standards" ein "Loch in die Agenda reiße".

Am Herzen liegt der Kommission drittens die "Steigerung von Vertrauen und Sicherheit". Eine besser koordinierte, europäische Reaktion auf Cyberangriffe und strengere Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten seien Teil der Lösung. Es könnten aber auch Verpflichtungen für Website-Betreiber eingeführt werden, ihren Nutzern Verstöße gegen die Sicherheit persönlicher Daten zu melden. Das digitale Zeitalter sei weder "Big Brother" noch ein virtueller "Wilder Westen". Auf die Debatte über den Kampf gegen Kinderpornos im Internet geht der Fahrplan nur kurz ein. Dafür könnten demnach Aufklärungskampagnen und Plattformen zum Melden illegaler Inhalte nützlich sein. Ferner werden Maßnahmen in Erwägung gezogen, um "schädliche Inhalte" zu löschen und Dritte vom Betrachten entsprechender Angebote abzuhalten. Ein eindeutiges Plädoyer für die von Innenkommissarin Cecilia Malmström gewünschten Websperren enthält die Agenda nicht, da dafür auch Filter eingesetzt werden könnten, die die Anwender auf ihren Rechnern selbstständig nutzen.

Die Schaffung eines "besseren Zugang der Europäer zum schnellen und ultraschnellen Internet" stellt den vierten Schwerpunkt dar. Die digitale Strategie setzt hier das Ziel, allen Europäern bis 2020 einen Breitbandanschluss von mindestens 30 MBit/s zu bieten. Die Hälfte aller Haushalte soll Leitungen mit 100 MBit/s zur Verfügung haben. Die Kommission will dafür Anhaltspunkte geben, "wie Investitionen in Glasfasernetze gefördert werden können". Generell betonte die federführende Kommissarin, dass es nicht nur um Geld, sondern vor allem um einen "Bewusstseinswandel", Kooperation und Entschlossenheit gehe.

Weiter pocht Kroes darauf, dass die Mitgliedsstaaten bis 2020 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im IuK-Bereich um 50 Prozent auf 11 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen. Zudem sollen die digitalen Fähigkeiten der Bürger verbessert und barrierefreie Online-Dienste für alle Europäer geschaffen werden. "30 Prozent der Europäer haben noch nie das Internet benutzt", monierte Kroes. Diese "digitalen Jungfrauen" sollten die Möglichkeit erhalten, "die Wunder der digitalen Welt zu erproben". Abschließend wirbt die Agenda dafür, das Potenzial der IuK-Techniken stärker "für den Nutzen der Gesellschaft einzusetzen". Es müsse dazu in einen intelligenten Technologieeinsatz und in die Nutzung von Informationen investiert werden für Lösungen, die den Energieverbrauch senkten, ältere Menschen unterstützten oder den Patienten fundierte Entscheidungen ermöglichten. Von 2015 an solle es etwa überall in der EU Zugang zu Online-Gesundheitsakten geben.

Die Wertschöpfung des europäischen Sektors für Informations- und Kommunikationstechnologien beläuft sich laut einem Bericht zur "digitalen Wettbewerbskraft der EU", den die Kommission bereits am Montag veröffentlichte, auf etwa 600 Milliarden Euro. Die Hälfte des Produktivitätsanstiegs der letzten 15 Jahre geht demnach auf diesen Bereich zurück. Auf ihn entfallen 25 Prozent aller in der EU getätigten Unternehmensinvestitionen in Forschung und Entwicklung. In den USA werde allerdings noch größerer Nutzen aus dem Sektor gezogen.

Aus der Untersuchung geht weiter hervor, dass der EU-Breitbandmarkt 2009 zum wiederholten Mal der größte weltweit war. Fast ein Viertel der EU-Bürger verfügt demnach über einen Festnetz-Breitbandanschluss. Deutschland rangiert beim Grad der Breitbandverbreitung in der EU an fünfter Stelle. Für grundlegende Web-Anwendungen seien die Geschwindigkeiten von über 2 MBit/s, die derzeit 80 Prozent der schnellen Netzzugänge erreichten, zwar ausreichend. Sie genügten jedoch nicht fortgeschrittenen Anwendungen wie Fernsehen auf Abruf. (jk)