Rasche Einführung neuer TLDs droht an ungeklärten Moralfragen zu scheitern

Die in der ICANN aktiven Regierungen haben am Dienstag die rote Karte gegen eine rasche Einführung neuer Top Level Domains wie .gay, .sport, .music oder .katholisch gezückt. Dabei hatten sie viel Zeit, sich selbst an der Ausgestaltung von Einspruchsmöglichkeiten gegen unliebsame TLD-Bewerbungen zu beteiligen – doch das unterblieb.

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Von
  • Monika Ermert

Die in der "Internet Corporation for Assigned Names and Numbers" (ICANN) aktiven Regierungen haben am Dienstag die rote Karte gegen eine rasche Einführung neuer Top Level Domains (TLDs) wie .gay, .sport, .music oder .katholisch gezückt. Die von der privaten Netzverwaltung vorgelegten Vorschläge zu Einspruchsmöglichkeiten gegen Bewerbungen, die gegen "Moral und öffentliche Ordnung" verstoßen könnten, seien nicht nur schwer umzusetzen, verdeutlichte die US-amerikanische Regierungsvertreterin Suzanne Sene beim 38. ICANN-Treffen. "Sie sind überhaupt nicht umsetzbar", konstatierte die US-Beamtin.

Es gebe keine allgemein anerkannte internationale Definition dafür, was der Moral und öffentlichen Ordnung entspreche und was nicht, sagte Sene. Das von den ICANN-Gremien und den hauptamtlichen Mitarbeitern gewählte Konzept sei einem Vertrag über Markenrechte entnommen, der im Gegenteil festhalte, dass Regierungen jeweils selbst für sich festlegen, was sie für unmoralisch halten und daher nicht als Markenanmeldung akzeptieren. Im Effekt, so warnten verschiedene Mitglieder des Regierungsbeirats könnten einzelne Länder durch eine Zulassung bestimmter Adresszonen durch die ICANN gezwungen sein, diese auf der Basis nationaler Rechte auszufiltern. Eine Bewerbung wie .gay etwa, die in vielen westlichen Ländern fraglos akzeptabel wäre oder gar staatlichen Schutz gegen Diskriminierung einfordern könnte, dürfte in mancher arabischen Jurisdiktion schlicht auf dem Index stehen.

Der Vertreter der EU-Kommission im Regierungsbeirat der ICANN (GAC), William Dee, mahnte, Filterkonzepte für gesamte TLDs könnten zu einer Fragmentierung im Netz führen. Wenn jemand damit beginne, einzelne TLDs auszufiltern, komme er schnell auch auf die Idee, eigene TLDs einzufügen. Als Anfang vom Ende eines universellen Internetzugangs bezeichnete sein Schweizer Kollege Frédéric Riehl die möglichen Nebeneffekte: "Es wäre wirklich traurig, wenn wir eine Lösung hätten, deren Konsequenz es wäre, dass sich die Welt teilt, so dass manche Adresszonen in einem Teil der Welt erreichbar wären, in einem anderen aber nicht."

Der Vorsitzende des ICANN-Vorstands, Peter Dengate Thrush, forderte die Regierungsvertreter eindringlich auf, rasch eine eigene Lösung vorzuschlagen. Bei dem Gespräch zeigten sich die Regierungen allerdings erst einmal ratlos angesichts des Dilemmas, entweder jedem Land ein Vetorecht zuzugestehen oder aber die Bedenken einzelner Länder zu übergehen und damit die Fragmentierung des Netzes zu riskieren. "Wir haben ja nur eine beratende Rolle", meinte Kommissionsvertreter Dee. Die Lösung müsse vielmehr aus den ICANN-Selbstverwaltungsgremien kommen. In einer eigenen Sitzung hatten die Regierungen allerdings verschiedene Lösungsvorschläge diskutiert, etwa eine Art Clearing-Stelle für Moralfragen, eine Einspruchsfrist für Regierungen gegenüber Bewerbern, oder gar vorab einzureichende Listen, wie sie aus Länderadresszonen bekannt sind.

Dengate Thrush und seine Vorstandskollegen hatten sich mit der Veröffentlichung des vierten Entwurfs des Bewerberhandbuchs auf der Zielgeraden für die seit Jahren diskutierte Einführung gesehen und reagierten überrascht auf die Ankündigung der Regierungen. Bruce Tonkin von Melbourne IT, der die Vorarbeiten des zuständigen ICANN-Selbstverwaltungsgremiums für die Einführung mitgeleitet hatte, wunderte sich, dass sich die Regierungen mit ihren Bedenken nicht schon in die ursprüngliche Diskussion eingeschaltet hatten. Hilferufe von Seiten der damaligen Arbeitsgruppe, die Regierungen mögen doch bei der Gestaltung eines Verfahrens mitwirken, seien vor drei Jahren unerhört geblieben, was umso erstaunlicher sei, als der Moralparagraph doch auf eine Forderung der Regierungen zurückgehe.

Die beim ICANN-Treffen versammelten Bewerber für neue TLDs fürchten schon jetzt, dass der Regierungseinspruch für weitere Verzögerungen sorgen wird und den Gruppen in die Hände spielt, die einer Einführung neuer TLDs skeptisch gegenüberstehen, etwa zahlreiche Markenrechtsinhaber. Befürworter einer raschen Einführung hatten bereits vorgeschlagen, in einer letzten großen Kraftanstrengung, in einem "New TLD-Summit" alle noch offenen Fragen noch in diesem Jahr zu erledigen. (pmz)