Ein Visionär auf den toten Schultern nicht existierender Maschinen - zum Tode von Stanislaw Lem

"Wir können alles aus der Welt machen, nur nicht eine Welt, in der die Menschen überlegen könnten: 'So soll es von nun an bleiben. Verändern wir nichts, erfinden wir nichts, weil es besser nicht sein kann, und wenn doch, dann wollen wir es nicht.'"

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Von
  • Detlef Borchers

Der polnische Kybernetiker, Schriftsteller und Philosoph Stanislaw Lem ist heute im Alter von 84 Jahren in einer Klinik in Kraków gestorben. Mit Lem ist einer der letzten großen Kybernetiker gestorben, die aus der "Informationszucht" eine universale Wissenschaft entwickeln wollten. Internationale Anerkennung erwarb er sich als Autor von Science-Fiction-Romanen wie Solaris (verfilmt zuerst von Andrei Tarkowski, später noch einmal von Steven Soderbergh), Der Futurologische Kongress oder Sterntagebücher: "Ich ließ mich, als ich nach meiner Stellung und einem Fach suchte, in dem ich tun konnte, wozu mein Intellekt sich am besten eignete, in jenem Ramschladen nieder, den man Science Fiction nennt, weil ich ihre falsche und irreführende Bezeichnung wörtlich nahm."

Stanislaw Lem wurde am 12. September 1921 in Lwów in einer jüdischen Arztfamilie geboren. Während der deutschen Besatzung Polens gehörte er der Widerstandsbewegung an und arbeitete als Autoschlosser. Nach dem Krieg studierte er Medizin und arbeitete als Assistent an einem Institut für angewandte Psychologie. Dabei beschäftigte er sich hauptsächlich mit Kybernetik und Mathematik, weil er sein mageres Gehalt durch die Übersetzung wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus diesem Gebiet aufbesserte. Aus diesen Übersetzungen heraus versuchte Lem in den Jahren 1954 bis 1955 an einer populärwissenschaftlichen Darstellung der Probleme der "Künstlichen Intelligenz", die unter dem Titel Dialoge erschien. Lems erster Roman erschien bereits 1946 in einer Heftreihe, geriet dann aber völlig in Vergessenheit, bis er 1989 unter dem Titel Der Mensch vom Mars neu aufgelegt wurde. Das eigentliche literarische Debüt von Lem, Hospital der Verklärung, vereitelte 1948 die Zensur des polnischen Staates.

Aus der Beschäftigung mit Theorien über den rechnenden Raum (Konrad Zuse, heute Stephen Wolfram) und der Biogenetik entstand 1964 sein philosophisches Hauptwerk, die Summa Technologiae. In diesem Buch vergleicht Lem die Entstehung der natürlichen Arten durch Darwin mit der Geschichte der technischen Entwicklung hin zur künstlichen Intelligenz, die er als "Informationszucht" definierte. Seine "allgemeine Theorie von Allem" (so die spöttelnde polnische Kritik), in der die evolutionäre Möglichkeit einer Entstehung der künstlichen Intelligenz gedacht war, wurde im real existierenden Sozialismus heftig kritisiert. Lem musste sich des Vorwurfs erwehren, die künftige Entwicklung der Menschheit auf die toten Schultern nicht existierender Maschinen abgewälzt zu haben. Seine Antwort ist heute zum Standardsatz aller KI-Forscher und Bio-Informatiker geworden: " Wir können alles aus dieser Welt machen, nur nicht eine Welt, in der die Menschen in einigen zigtausend Jahren überlegen könnten: 'So, es ist nun genug. So soll es von nun an für immer bleiben. Verändern wir nichts, erfinden wir nichts, weil es besser nicht sein kann, und wenn doch, dann wollen wir es nicht.'"

Nach Summa Technologiae beschäftigte sich Lem mit der Spieltheorie und schrieb 1968 die Probleme des Zufalls, in der er versuchte, sprachliche Texte als embryogenetische Prozesse zu "dekodieren". Wegen zahlloser Abschweifungen gilt das Werk als schwer verständlich. Mit Phantastik und Futurologie wandte sich Lem 1970 dem engeren Thema der Science-Fiction zu und entwickelte eine Metatheorie der Gattung, auch weil er ab 1972 als Dozent am Lehrstuhl für polnische Literatur arbeiten konnte. Mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1982 musste Lem emigrieren und lebte abwechselnd in Berlin und Wien. Hier entstanden die Werke Die Vergangenheit der Zukunft und die Technologiefalle. 1988 konnte Lem nach Polen zurückkehren. Er schrieb keine theoretischen Werke und Romane mehr, erhielt dafür aber eine Reihe von Auszeichnungen, zuletzt 2003 den Ehrendoktor der Universität Bielefeld.

Auf Stanislaw Lems Theorie der Informationszucht kann der Brainchip als Mensch-Maschine-Schnittstelle zurückgeführt werden. Ein bekannter Theoretiker, der Lems Gedanken aufnahm, ist Ray Kurzweil mit seinem Buch The Age of Intelligence (dt.: Homo S@piens). Mit dem gerade erschienenen The Singularity is Near – When Humans Transcend Biology knüpft Kurzweil optimistisch an Lems Summa Technologiae dort an, wo dieser über die nächste, höhere Stufe nach der chromosomalen (menschlichen) Stufe schrieb: "Da es unbesonnen wäre, wenn wir auf einem so wenig erkundeten Gebiet noch irgend etwas äußern würden, müssen wir verstummen."

(Detlef Borchers) / (jk)