Der sozialromantische Mythos von Gleichheit in Teams und Selbstorganisation

Im Zusammenhang mit Selbstorganisation in agilen Softwareprojekten existiert der sozialromantische Mythos, alle seien gleich oder gleichberechtigt. Warum das gar nicht sinnvoll ist, steht in diesem Beitrag.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Bernd Oestereich
Inhaltsverzeichnis

Im letzten Blogbeitrag war ich der Frage nachgegangen, was ein Team (im Unterschied zu einer Gruppe, einer Organisation oder einer Familie) ist. Das möchte ich noch weiter vertiefen.

Im Zusammenhang mit Selbstorganisation existiert der sozialromantische Mythos, alle seien gleich oder gleichberechtigt. Bei der Unterscheidung von Team und Gruppe ist bereits deutlich geworden, dass gerade die Unterschiedlichkeit der Beteiligten ein typisches Merkmal eines Teams ist – wie passt das denn zu Gleichheit oder Gleichberechtigung?

Je nachdem, wie fest oder lose die Akteure und wie fest oder lose die Aktionen (Handlungen) gekoppelt sind, funktioniert Selbstorganisation anders. Es macht also einen Unterschied, ob Selbstorganisation für eine Gruppe, ein Team, eine Familie oder eine große Organisation betrachtet wird. In Teams existiert typischerweise ein hohes Maß an direkter personenbezogener Kommunikation, während in großen Organisationen indirekte und rollenbezogene stärker ist.

Ein Kennzeichen von Teams und Organisationen ist, dass ihre Mitglieder unterschiedlich sind und beispielsweise unterschiedliche Fähigkeiten und Funktionen haben. Die rein quantitative Vermehrung von Funktionen ist in Organisationen normalerweise nicht besonders interessant.

Wenn sich Mitglieder einer Organisation in ihren fachlichen und sozialen/kommunikativen Kompetenzen ergänzen und unterscheiden, existiert keine Gleichheit und ist Gleichberechtigung kontraproduktiv. In einem Operationsteam entscheidet der Chirurg, wo die Arterie getrennt wird, und nicht der Anästhesist. Und schon gar nicht, diskutiert das gesamte OP-Team darüber. Darüber ist jeder Patient auch froh. Die Forderung nach Gleichberechtigung in einem Team (oder in einer Organisation) würde ganz berechtigt Konflikte verursachen.

Außerdem sind bestimmte Personen eher austauschbar beziehungsweise verzichtbar, einige mehr als andere identitätsstiftend für das Team usw.

Die systemische Ordnung (informelle Hierarchie) spielt eine wichtige Rolle. Jemanden, der sehr lange Mitglied ist und schon viele Verdienste und Anerkennung durch seine Arbeit erworben hat, wird von den anderen Mitgliedern typischerweise mehr Einfluss zugebilligt als jemand, der ganz neu ist der Gruppe ist. Jemand der neu in ein Team kommt, kann vom ersten Tag an zu bestimmten Fragen hohen Einfluss haben, wenn er von den übrigen als ein besonderer Experte hierzu angesehen wird. Wenn jemand schon zig mal bewiesen hat, dass er etwas Bestimmtes sehr gut und erfolgreich kann, dann hat das Team Vertrauen, gegebenenfalls gar blindes Vertrauen in seine Fähigkeiten. Jemand, der dies das erste Mal probiert, bekommt eine Chance, einen Vertrauensvorschuss und wird wahrscheinlich aufmerksam beobachtet. Die beiden sind nicht gleich und werden aus gutem Grund ungleich behandelt.

Von außen wird ein Team meistens als eine Einheit gesehen, es erhält eine kollektive "Ihr"-Identität. Die kann von der internen Sicht, der "Wir"-Identität, abweichen. Wenn ein Mitglied das Außenbild beschädigt, betrifft das auch jedes einzelne Mitglied, sodass die außenorientierten Handlungen des Einzelnen für die Gruppe einer sozialen Kontrolle unterliegen und (asymmetrische) Abhängigkeiten zwischen den Mitgliedern entstehen. Dadurch ist es beispielsweise an sich kein Problem, wenn ein Team nach außen einen Teamleiter hat, sondern erst dann, wenn beispielsweise dem Teamleiter die gemeinschaftliche Leistung des Teams persönlich zugeschrieben wird oder er Werte oder Überzeugungen des Teams dabei verletzt.

Die (selbstbestimmte) Wahl eines Teamsprechers/Außenrepräsentanten kann die Kommunikation mit der Umwelt vereinfachen und ist aus interner Sicht unproblematisch, solange der Sprecher sich nicht als Chef aufspielt. Ein interner Teamleiter kann teaminterne Prozesse vereinfachen, wenn er (anstelle von Anweisungen, "von oben") vor allem moderiert, ("von unten", mit Fragen, Anregungen, Ideen) führt, die Aufmerksamkeit des Teams auf die richtigen Fragen lenkt etc.

Wenn Teammitglieder individuell ihre Fähigkeiten entfalten können sollen, wenn komplementäre Stärken genutzt werden sollen, dann sind Ungleichheit und Ungleichbehandlung notwendig. Ansonsten bestimmen im Zweifelsfall das schwächste Mitglied und der kleinste gemeinsame Nenner die Norm. Und genau diesen Effekt konnte ich leider schon mehr als einmal gerade in agilen Projekten beobachten.

Die Wirkungen und Implikationen von Ungleichheit unterscheiden sich zudem in Abhängigkeit vom gruppendynamischen Status (vgl. Gruppendynamik, gruppendynamische Phasen, Tuckman-Modell). Es gibt immer ein Alphatier– Probleme entstehen, wenn es mehr als ein Alphatier gibt und diese die gegebene Hierarchie nicht akzeptieren und verändern wollen. Eine explizit gesetzte Hierarchie wirkt eher konfliktreduzierend, da nur Veränderungswünsche zu Konflikten führen. Die Abwesenheit einer Hierarchie wirkt tendenziell konfliktfördernd, weil die Sicherheit einer Hierarchie fehlt und darum nahezu jedes Verhalten die Aufmerksamkeit (und Reaktionen) der Alphatiere erregt.

Symmetrische und nahezu gleichberechtigte Zweierbeziehungen sind möglich – egalitäre Mehrpersonenbeziehungen jedoch scheitern oder sind Verschwendung. Das was für ein "Dream-Team" aus zwei Personen gilt, lässt sich kaum auf Mehrpersonenbeziehungen übertragen.

Team-Entscheidungen sollten von den dafür kompetenten Mitgliedern getroffen werden, von den Experten, nicht vom Kollektiv. Ausnahmen sind statistisch orientierte Verfahren, etwa Mittelwertbildung bei einer gemeinsamen Schätzung, wenn deren Erfolg empirisch gesichert ist oder wenn es keine Experten gibt, hier also zufällig doch alle gleich sind. Ansonsten gilt: "der Chirurg entscheidet".

Wenn Entscheidungen der Kompetenz folgen, dann setzt dies voraus, dass das Team die Unterschiede kennt, darüber spricht, also auch die Leistungen ihrer einzelnen Mitglieder offen bewertet und beurteilt. Deswegen sind Konfliktfähigkeit und wertschätzendes, aber klares Feedback Erfolgsfaktoren von Teams. Routinierte Selbstbeobachtung beispielsweise durch regelmäßige Retrospektiven hilft dabei.

Selbstorganisation heißt also unter anderem:

  • Mitglieder einer Organisation sind prinzipiell ungleich und nicht gleichberechtigt.
  • Eine formale Hierarchie ist hilfreich und macht ein Team umso erfolgreicher, je näher die formale sich mit der informellen Hierarchie deckt.
  • Eine offizielle Hierarchie, die der informellen (systemischen) Ordnung widerspricht, ist allerdings sozialer Sprengstoff.
  • Zu einem guten Team gehört ein Teamleiter (nach innen gerichtet).
  • Zu einem guten Team gehört ein Teamsprecher (nach außen gerichtet).
  • Ein gutes Team sucht, benennt, bewertet und nutzt explizit die individuellen Eigenschaften und Stärken ihrer Mitglieder.
  • Entscheidungen treffen die für die jeweilige Entscheidung kompetentesten Mitglieder. Entscheidungen sind also zweistufig: erst schaut das Team, wer entscheiden soll und fallbezogen kompetent ist, dann entscheiden die ausgewählten Entscheider.
  • Regelmäßige Selbstbeobachtung stärkt Teams.

Teams können sich informell durch Kommunikation finden und bilden oder von einem Akteur explizit initiiert werden. In beiden Fällen existiert ein gegebenes Problem (der Kommunikations- oder Gründungsanlass), das ein Ziel impliziert. Teams können sich ihre Ziele (das "Was") also nicht selbst suchen, sie bekommen sie gegeben. Teams können jedoch entschieden, "wie" sie das Ziel verfolgen und erreichen. ()