Neue Wege im Peer Review

Zeitschriften nutzen zunehmend die Möglichkeiten des Internets bei der Begutachtung wissenschaftlicher Veröffentlichungen.

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Von
  • Richard Sietmann

Das mehr als 300 Jahre alte System Peer Review-System, bei dem Wissenschaftliche Zeitschriften die von den Forschern eingereichten Manuskripte mit den Ergebnissen ihrer Arbeit vor der Veröffentlichung anonym durch Fachkollegen (Peers) begutachten lassen, steckt nach Meinung vieler Beobachter in einer tiefen Krise. Immer mehr Veröffentlichungen in immer mehr Zeitschriften beanspruchen immer mehr Zeit zur Begutachtung der Arbeiten. Doch das Verfahren zur Qualitätssicherung verläuft nicht immer tugendhaft und frei von Missgunst. Es soll schon vorgekommen sein, dass Gutachter ihre Stellungnahme herauszögerten, um mit den eigenen Arbeiten noch vor dem Begutachteten herauszukommen, oder die unverstandene Arbeiten negativ beurteilten. In der Mathematik gibt es inzwischen schon ein eigenständiges Journal, die Rejecta Mathematica, das ausschließlich anderswo durch den Peer Review-Prozess gefallene Manuskripte veröffentlicht.

In einer Umfrage zeigten sich im Jahr 2009 von 4000 befragten Wissenschaftlern 61 Prozent zufrieden und acht Prozent sogar sehr zufrieden mit dem Verfahren, weil es die Qualität verbessert und die Originalität der Beiträge bestätigt. Andererseits waren in der Umfrage Peer Review Survey 2009 84 Prozent der Ansicht, dass es verbesserungswürdig sei. Mayur Amin, Vice President für Forschung und akademische Angelegenheiten bei Elsevier in Oxford, kommentierte jetzt auf der Veranstaltung Academic Publishing in Europe (APE 2011) in Anspielung auf ein Churchill-Zitat: "Das ist wie mit der Demokratie – nicht perfekt, aber das Beste, was wir haben".

Aus allen Richtungen mehren sich daher die Stimmen, die Qualitätssicherung in der Wissenschaft transparenter und nachvollziehbarer zu gestalten und so etwas wie "Checks and Balances" in den Begutachtungsprozess einzuführen. Auf der Veranstaltung in Berlin berichtete Bernd Pulverer, Leiter des Wissenschaftlichen Publikationswesens der European Molecular Biology Organisation (EMBO) über die positiven Erfahrungen mit der vor zwei Jahren beim EMBO Journal eingeführten Offenlegung des Begutachtungsverfahrens. Dabei werden begleitend zu dem eigentlichen Aufsatz auch die wesentlichen Teile des zugehörigen "Aktengangs" online veröffentlicht, das heißt, neben den Daten zum Zeitablauf von der Einreichung und etwaigen Überarbeitungen bis zur Veröffentlichung auch die Stellungnahmen der Gutachter und die Antworten der Autoren darauf.

Wissenschaftler, die nicht wollen, dass die Begleitumstände der Veröffentlichung publik werden, konnten der Offenlegung widersprechen. Die Gutachter, die anonym bleiben, haben diese Möglichkeit nicht. Inzwischen sind mehr als 400 Artikel auf diese Weise erschienen. 95 Prozent der Autoren akzeptieren das Verfahren. Etwa jeder zehnte Leser eines Artikels klickt auch den 'Peer Review Process File' an. "Die Gutachter denken etwas sorgfältiger darüber nach, wie beleidigend sie werden", hat Pulverer beobachtet. Im Dezember ist das transparente Peer Review jetzt auch bei den drei anderen von der EMBO herausgegebenen Journalen eingeführt worden.

Der Informatiker Maurizio Marchese von der Universität Trient rief zur Befreiung von den künstlichen Beschränkungen in der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Internet auf. "Das Web hat eine Menge verändert, aber der Veröffentlichungsprozess ist mehr oder weniger derselbe geblieben", weil sich alles nach wie vor an dem seitengetreuen Papier-Layout des PDF-Formats orientiere, warb er für die stärkere Nutzung von Web-2.0-Tools. Die Wissenschaft habe eine soziale Komponente in der Art, wie neue Fragestellungen entstehen und sich fortentwickeln, "und dieser soziale Aspekt kann abgebildet werden".

Die Vision einer Dekonstruktion des wissenschaflichen Publikationswesens versuchen Marchese und seine Mitstreiter in dem Projekt Liquid Publications umzusetzen, das Journale nurmehr als strukturierte Links auf über das Web zugängliche Beiträge versteht. Diese Beiträge gehen über das klassische Paper hinaus und können Daten, Blogs oder Experimente umfassen – also im Prinzip alles, was mit einer URL referenziert werden kann. Ob ein Beitrag in solch ein Journal gehört, mithin interessant, anregend, oder relevant ist, sei für die zugehörige Community nichts anderes als die kombinierte Anwendung von expliziten Filter und Regeln, von Empfehlungen und gemeinsamen Auswahlmechanismen, "und – sofern gewünscht – von Peer Reviews". (anw)