Schwester Artemis auf der Säuglingsstation

Kanadische Forscher haben aus der Analyse-Plattform, auf der auch die Quizsoftware Watson von IBM aufbaut, ein Diagnosesystem für Neugeborene entwickelt. Es soll Infektionen schneller als Ärzte und Pfleger erkennen können.

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Von
  • Tom Simonite

Kanadische Forscher haben aus der Analyse-Plattform, auf der auch die Quizsoftware Watson von IBM aufbaut, ein Diagnosesystem für Neugeborene entwickelt. Es soll Infektionen schneller als Ärzte und Pfleger erkennen können.

Erst vor kurzem hat der IBM-Computer Watson in der TV-Quizserie Jeopardy für Furore gesorgt. Das Programm schlug seine beiden menschlichen Mitspieler eindrucksvoll. Doch die Technologie hinter Watson ist mehr als eine Spielerei: Kanadische Forscher setzen sie bereits versuchsweise auf der Säuglingsstation eines Kinderkrankenhauses in Toronto ein, um Infektionen zu diagnostizieren.

Müssen Säuglinge vorübergehend auf einer Intensivstation versorgt werden, sind sie an eine Vielzahl von Geräten angeschlossen, die wichtige Körperfunktionen überwachen. „Sie produzieren einen konstanten Datenstrom, doch oft wird die Information zu einem knappen Bericht verdichtet, den Krankenschwestern einmal pro Stunde in die Hand bekommen“, sagt Carolyn McGregor von der University of Ontario. Sie leitet ein Projekt, das mit Hilfe einer „Artemis“ genannten Software verhindern will, dass wichtige Daten unbeachtet bleiben.

Artemis basiert auf der Analyse-Plattform „InfoSphere Streams“, die von IBM entwickelt wurde und auch dem Watson-Programm zugrundeliegt (siehe dazu auch TR-Interview mit IBM-Entwickler David Gondek). Sie ist darauf ausgelegt, schnelle Entscheidungen anhand von Daten aus vielen verschiedenen Quellen zu treffen.

„Die bekannten Software-Ansätze passten nicht zu dem Datenstrom, mit dem wir es in der Intensivstation zu tun haben“, sagt McGregor. Die bislang eingesetzten Programme könnten nur klar strukturierte Datenbestände analysieren, erläutert McGregor. InfoSphere Streams nutzt hingegen den Ansatz des so genannten „Stream Computing“. Einfließende Daten werden hierbei durch Fragen-Filter geschickt. Auf diese Weise werden aus der vorhandenen Information permanent neue Antworten generiert.

Artemis sammelt in der Klinik in Toronto zurzeit Daten von acht Neugeborenen: Puls, Atmung, Sauerstoffgehalt im Blut, Körpertemperatur, Blutdruck sowie Herzfunktionen aus einem Elektrokardiogramm werden permanent vermessen und ausgewertet. Zugleich kann das Programm auf die Krankenhausakten der Kleinen zugreifen. Aus diesen Daten soll Artemis frühzeitig Hinweise auf etwaige Infektionen herausziehen.

In heutigen Krankenhausalltag kommt es immer wieder vor, dass Ärzte und Pflegepersonal voreilige Diagnosen treffen. Die Säuglinge bekommen dann Medikamente, die sie nicht brauchen, und belegen mitunter auch Betten länger als nötig. „Im Durchschnitt bleiben sie doppelt so lange wie gesunde Kinder“, sagt McGregor. „Diese Fehlbelegung wollen wir reduzieren.“

Ein Hinweis auf eine Infektion ist beispielsweise Apnoe, ein kurzzeitiger Atemstillstand. Auch Veränderungen des Herzrhythmusses kündigen eine Infektion manchmal schon 24 Stunden vor anderen Symptomen an. Solche Zeichen soll Artemis auswerten. Dabei testen die Forscher mehrere Varianten der zugrundeliegenden Algorithmen und vergleichen deren Diagnosen mit denen von Ärzten und Pflegern. Die Ergebnisse sollen Ende dieses Jahres veröffentlicht werden. Einige der Algorithmen sollen auch lernfähig sein, also aus Daten und Feedback neue Hinweise auf eine Infektion ableiten können.

Auf InfoSphere aufbauende Verfahren könnten sogar Datenflüsse verarbeiten, die zu schnell sind, um sie erst einmal auf eine Festplatte zu schreiben, sagt Lipyeow Lim von der University of Hawaii, der zuvor am TJ Watson-Labor von IBM gearbeitet hat. „Kommen neue Daten herein, werden sie sofort begutachtet und anschließend verworfen.“ InfoSphere Streams sei gewissermaßen ein Betriebssystem für dieses Verfahren, sagt Lim. Ein auf ihm aufbauendes Programm laufe auf mehreren Rechnern, die sich die Analyse-Arbeit teilen und keine Daten mehr auf eine Festplatte schreiben.

Der Rechnerverbund, auf dem Artemis läuft, kann so die Daten sämtlicher Säuglinge auf einmal verarbeiten. „Ein einziges Baby zu überwachen, wäre noch mit herkömmlichen Algorithmen und Speichersystemen möglich“, sagt Lim. „Wenn Sie viele Kinder auf einmal überwachen wollen, wird es schwierig.“

McGregor will Artemis zu einem Ferndiagnose-System weiter entwickeln, das Neugeborenen-Stationen weltweit überwachen kann. „Wir haben bereits eine Cloud-basierte Version installiert, die von einer Frauenklinik in Rhode Island genutzt wird“, sagt McGregor. Über eine sichere Internetverbindung würden die Daten in das Labor nach Toronto gestreamt. Zwei Krankenhäuser in China wollen demnächst ebenfalls eine Verbindung nach Toronto schalten. (nbo)