re:publica: Occupy unter der Forscher-Lupe

Wissenschaftler vom MIT und dem DataCenter haben gemeinsam mit Kollegen 13 Millionen Tweets und die Berichte traditioneller Medien rund um die Protestbewegung durchforstet sowie eine Online-Umfrage unter Beteiligten durchgeführt.

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US-Wissenschaftler haben Occupy als transmediales Forschungsprojekt entdeckt. Seit Herbst seien 13 Millionen Tweets und die Berichte traditioneller Medien rund um die Protestbewegung durchforstet worden, erklärte Sasha Costanza-Chock vom Center for Civic Media am Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf der re:publica in Berlin. Darüber hinaus sei eine Online-Umfrage unter mittlerweile über 5000 mit den Vorgängen verbundenen Nutzern durchgeführt worden, um etwa Genaueres über die Beweggründe für die Teilnahme an Aktionen herauszufinden. Die Forschung werde unter dem Dach der offenen Plattform "Occupy Research" koordiniert.

Die Absprachen über das Analysewerkzeug sei sinnvoll, führte Costanza-Chock aus, da anfangs jeder interessierte Forscher etwa Twitter-Meldungen mit Hashtags für Occupy hastig gespeichert habe. Nun seien gemeinsame Datensets vorhanden, auf die frei zugegriffen werden könne. Zudem seien im Rahmen mehrerer Programmierwettbewerbe nützliche Werkzeuge etwa zum automatischen Zählen von Auftritten einzelner Occupy-Sprecher im Rundfunk entstanden. Gearbeitet werde noch an einer Plattform zur gemeinschaftlichen Inhaltsanalyse einschlägiger Beiträge in den Massenmedien per Crowdsourcing, um u. a. mögliche Voreingenommenheiten der Journalisten auszumachen.

Einblicke in Ergebnisse der statistischen Online-Umfrage vermittelte Christine Schweidler vom Forschungsinstitut DataCenter. Die Soziologin schickte vorweg, dass eigentlich auch direkte Befragungen Beteiligter vor Ort geplant gewesen seien. Die Polizei sei den Analysten hier aber durch die rasche Räumung der Occupy-Camps in mehreren US-Großstädten im Spätherbst vergangenen Jahres zuvorgekommen. Die über eine spezielle Webseite einsehbaren, verdichteten Daten seien zudem zunächst anonymisiert worden, um nicht Geheimdiensten zuzuarbeiten.

Schweidler zufolge handelt es sich bei Occupy laut der nicht-repräsentativen Web-Umfrage, für die man hauptsächlich auf einschlägigen Facebook-Seiten, auf Twitter und in persönlichen E-Mails hingewiesen habe, größtenteils um eine Bewegung unter Weißen. Überrascht habe die Forscher, dass sich 15 Prozent der Befragten als homosexuell oder queer bezeichnet hätten. Der Großteil der Teilnehmer aus dem Occupy-Umfeld sei – entgegen manchen Klischees – einer Vollzeitbeschäftigung nachgegangen und in der Mittelklasse angesiedelt. Viele Studenten und gut Gebildete seien darunter, das Haushaltseinkommen eher niedrig. Als Motive für den Anschluss an das Aktivistennetzwerk seien vor allem "ökonomische Ungleichheit", "soziale Ungerechtigkeit" und Unzufriedenheit mit dem wirtschaftlichen System genannt worden.

Dass sich ein Großteil des Widerstands im Klicken auf Buttons im Web oder auf Online-Diskussionen erschöpft habe, ließ sich laut Schweidler nicht bestätigen. So hätten zwar 75 Prozent der Befragten angegeben, einschlägige Postings auf Facebook, Twitter oder in anderen sozialen Netzwerken verfasst zu haben. 73 Prozent hätten aber erklärt, an Debatten auch in der Kohlenstoffwelt teilgenommen zu haben. 69 Prozent seien auf Demonstrationen oder vergleichbare Versammlungen gegangen, 63 Prozent hätten sich direkt an einem Camp beteiligt. Eigene Protestaktionen organisierten 19 Prozent. 95 Prozent seien bereits zuvor in anderen sozialen Bewegungen aktiv gewesen, sodass nicht von einer mangelnden Anbindung an die Zivilgesellschaft ausgegangen werden könne.

Die Widerspiegelung der Revolte in der komplexer werdenden Medienlandschaft beleuchtete Costanza-Chock. Steigende Aufkommen an Tweets und vereinzelte anfängliche Medienberichte habe zunächst der Aufruf der Adbusters Media Foundation ausgelöst, in der Nachfolge der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo vergleichbare Aktionen in westlichen Großstädten durchzuführen. Der erste große Höhepunkt mit hunderttausenden Twitter-Botschaften sei mit der Festnahme von 700 Demonstranten auf der Brooklyn Bridge in New York am 1. Oktober 2011 verknüpft, die Klimax mit der Räumung der Camps Portland, Oakland und Manhattan am 15. November erreicht gewesen. Bei beiden Vorgängen habe Occupy auch die Titelseiten von US-Tageszeitungen erobern können.

Insgesamt seien die Verbindungen zwischen traditionellen Medien und "Bürgerjournalisten" in sozialen Netzwerken und Blogs enger geworden. Größere Presseverlage etwa stellten mittlerweile mehrere Mitarbeiter ab, die den Nachrichtenstrom über Twitter oder Facebook verfolgten, gezielt Meldungen aufgriffen und diese einem größeren Publikum zugänglich machten. Die entsprechenden Berichte würden wiederum in sozialen Medien verlinkt. Dies habe man im Fall Occupy an einer Untersuchung der geteilten Verweise feststellen können. (jk)