Millionen Bilder missbrauchter Kinder im Netz

Früher war es aufwendig, Bilder zu entwickeln, heute genügen wenige Mausklicks. Digitale Kameras und das Internet haben zu einer Bilderflut geführt – auch bei Aufnahmen von missbrauchten Kindern.

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Von
  • Christian Schultz
  • dpa

Die 13-jährige Anna sitzt vor ihrem Computer und klickt sich durchs Internet. Wie viele Kinder und Jugendliche chattet sie gern, einige Bekannte lernte sie dort schon kennen. Auch dieses Mal kommt sie schnell mit einem Unbekannten ins Gespräch. Anfangs geht es um Hobbys und Interessen, dann um ihr Aussehen. Schließlich fragt er sie, ob sie sich vor einer Webkamera ausziehen oder sich mit ihm treffen möchte. So oder ähnlich beginnen viele Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Meistens dient das Internet oder das Handy als Kommunikationskanal.

"Die neuen Techniken machen es Tätern viel einfacher", sagt die Psychologin Julia von Weiler. Sie ist Geschäftsführerin der Deutschen Sektion des internationalen Netzwerks "Innocence in Danger". Dieses hat eine dreitägige Tagung zu dem Thema in Münster organisiert. Noch bis Samstag diskutieren Experten aus Deutschland, Frankreich und den USA über die Probleme der neuen Medien.

Nirgendwo ist es leichter, pornographische Fotos und Videos zu verbreiten oder über Sex zu sprechen, sagt von Weiler. Früher war es aufwendig, Bilder zu entwickeln, heute genügen wenige Mausklicks. Web- und Handykameras haben zu einer Bilderflut geführt. Nach Schätzungen kursieren an die sieben Millionen Bilder missbrauchter Kinder im Internet. In Chats können Kontakte anonym und schnell geknüpft werden, die Hemmschwelle ist niedrig.

Dabei verwenden Täter Medien, die bei Jugendlichen sehr beliebt sind. 90 Prozent der 12- bis 19-Jährigen nutzen laut der Studie (PDF-Datei) "Jugend, Information, (Multi-)Media" von 2006 das Internet, ein Handy besitzen nahezu alle. Sieben Prozent von ihnen wurden bereits per Mobiltelefon Pornovideos zugeschickt. Zudem ergab eine Umfrage der Kölner Universität, dass 38 Prozent aller Fünft- bis Elftklässler in Nordrhein-Westfalen bereits in einem Chat gegen ihren Willen nach sexuellen Dingen gefragt wurden – bei den Mädchen war es jedes zweite.

Bilder und Videos, die im Umlauf sind, lassen sich kaum mehr beseitigen. "Jeder Computer der Welt müsste kontrolliert werden", sagt von Weiler. Und selbst wenn es gelingt, bleiben sie ewig im Gedächtnis der Kinder, berichtet Sharon W. Cooper, Kinderärztin und Dozentin der Universität von North Carlina (USA). Ihrer Meinung nach hat sich ein weltweites Netzwerk zum Austausch von pornographischem Material gebildet. "Täter fühlen sich nicht mehr allein", sagt sie.

Das Bundeskriminalamt verzeichnete 2005 knapp 14.000 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern. 3788-mal wurde pornographisches Material mit Kindern verbreitet, 2002 lag die Zahl noch bei 1778. In Nordrhein-Westfalen waren es vergangenes Jahr 610 Verbreitungsfälle, über 40 Prozent mehr als 2002. In 90 Prozent der Fälle geschah das über das Internet. "Die Dunkelziffer liegt viel höher", sagt Holger Engels, Leiter der Kriminalinspektion des Polizeipräsidiums Münster.

Nicht nur Erwachsene werden zu Tätern, auch Jugendliche vergehen sich an Kindern. Sie tauschen Nacktaufnahmen auf ihren Handys aus, filmen Gleichaltrige und setzen sie damit unter Druck. Für die Kinderärztin Cooper hat unter anderem die Allgegenwärtigkeit von Sex in der Werbung und in den Medien Schuld daran. "Sex wird normalisiert, es ist eine neue Form des Exhibitionismus", kritisiert sie.

Begriffe aus dem Rotlichtmilieu werden in die Alltagssprache eingebaut, zum Beispiel das englische Wort "pimp" für Zuhälter. Es schmückt Titel von Fernsehsendungen, in Kanada werden "pimp tones" als Klingeltöne für das Handy angeboten. "Kinder wenden sich früher dem Thema Sex zu", erklärt Cooper. Ihre körperliche Entwicklung passt nicht mehr zu ihren gesellschaftlichen Erfahrungen. Für manche stelle die Sexualität inzwischen einen größeren Wert dar als intellektuelle Stärke.

Nur wenige sprechen über ihre Erlebnisse, weil sie sich schämen, sagt Cooper. Typische Folgen seien Essstörungen und Angstzustände. Wenn Kinder Hilfe suchen, meiden sie oft das Gespräch mit den Eltern und gehen ins Internet. Deswegen müssen Online-Beratungen ausgebaut werden, fordert von Weiler. Eine bundesweite Telefonberatung namens N.I.N.A. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen) gibt es seit 2005. Betrieben wird sie vom Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen. 100 Anrufe gehen dort im Schnitt pro Monat ein – hoffentlich nicht auch der von Anna.

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(Christian Schultz, dpa) / (anw)