Elektronische Gesundheitskarte: Der Blick über die Grenzen

Während in Deutschland noch über die Kosten und den Nutzen der Gesundheitskarte debattiert wird, sind ähnliche Systeme in anderen europäischen Ländern längst online oder auf dem Weg.

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Von
  • Detlef Borchers

In der Debatte um die Aussagen einer nicht offengelegten Kosten-Nutzen-Analyse zur Einführung der Gesundheitskarte der Beratungsfirma Booz, Allen, Hamilton hat sich der IT-Branchenverband Bitkom zu Wort gemeldet. Nach Ansicht von Bitkom-Präsident Willi Berchthold werde das größte deutsche IT-Projekt zu Tode geredet, während andere Länder ihre Gesundheitstelematik längst gestartet hätten. "Hier wird die Chance vergeben, mit einem Vorzeigeprojekt die Effizienz und Transparenz im Gesundheitswesen zu erhöhen", erklärte Berchthold in Berlin. Das aber schade dem Innovationsstandort Deutschland. "Wenn wir in Deutschland zu lange warten, werden wir in wenigen Jahren die Lösungen nur noch aus dem Ausland einkaufen", so Berchthold. Dabei hätte die deutsche Industrie schon Vorleistungen im Wert von etwa 50 Millionen Euro in die elektronische Gesundheitskarte gesteckt. Dennoch habe Deutschland immer noch die Chance, mit der elektronischen Gesundheitskarte die Grundlagen für ein "Vorzeigeprojekt mit Weltmarktpotenzial" zu legen, wird Bitkom-Vizepräsident Jörg Menno Harms zitiert.

Die Studie selbst dürfe nicht instrumentalisiert werden, weil sie mit "unvollständigen Annahmen und Zahlen" arbeite, so Willi Berchthold. Eine Offenlegung der umstrittenen Studie forderte der oberste deutsche IT-Industrielle jedoch nicht. Stattdessen verweist Berchthold auf eine eigene Bitkom-Studie, die belegen würde, dass andere Länder weiter sind. Namentlich werden Dänemark, Großbritannien und Italien genannt, die Deutschland weit voraus sein sollen. Das dem deutschen Projekt sehr ähnliche System der österreichischen e-Card wird nicht von Bitkom genannt.

In Dänemark gibt es seit 1994 die einheitliche lebenslange Patientennummer für jeden Dänen. Unter dieser Nummer werden alle verordneten Medikamente, Laborbefunde und Arztbriefe in einer zentralen Datenbank gespeichert, die von der öffentlich-rechtlichen Medcom betrieben und überwacht wird. Jeder Arzt und Apotheker hat eine Lese- und Schreibberechtigung. Die Patienten können via Internet ihre Daten lesen und verfolgen, wer auf die Daten zugegriffen hat, wenn sie zuvor eine kostenlose digitale Signatur von der Medcom bezogen haben. "Tempo und Transparenz werden dabei sehr groß geschrieben, Datenschutzbedenken dagegen sehr klein", heißt es in einem Bericht über das "Sundhetsdatanet". "Unser System beruht auf Vertrauen. Zu viele Sicherheitseinschränkungen sind nicht nutzerfreundlich", wird dazu Ib Johanson, Geschäftsführer der Medcom zitiert.

In Italien wird eine Carta Regionale dei Servizi seit April 2005 von neun Millionen Versicherten in der Region Lombardei genutzt. Lieferant der IT-Infrastruktur ist Siemens, das auch die österreichische IT-Betriebszentrale betreibt. Die Telekommunikation zu den Rechenzentren besorgt Telecom Italia. Über die Karte mit digitaler Signatur, die nicht nur Gesundheitskarte, sondern auch eine Bank-, Behörden- und Steuerkarte (Codice Fiscale) ist, sollen die Facharztüberweisungen und das eRezept abgewickelt werden. Da es den 150.000 Ärzten in der Lombardei freigestellt ist, sich an das IT-System anzuschließen, sind besonders bei den Allgemeinärzten nur wenige Kartenlesegeräte aufgebaut. Zumindest in der Region Mailand arbeitet man derzeit noch überwiegend mit ausgedruckten Ersatzbescheinigungen, die immerhin online angefordert und lokal ausgedruckt werden können.

In Großbritannien arbeitet der National Health Service seit 2002 daran, bis 2012 den NHS Care Records Service, ein nationales zentrales Computersystem für 60 Millionen Versichterte zu installieren. Dieses System ist im Kern eine elektronische Patientenakte. Ergänzt wird sie die Akte zunächst durch "Choose and Book", einem Reservierungssystem, mit dem Allgemeinärzte für den Patienten Termine bei Fachärzten und Krankenhäusern belegen. Der Patient bekommt den Termin auf Papier und eine Referenznummer, mit der er im Internet die Buchung zu Hause verändern kann, sofern er eine digitale Signatur beantragt und bekommen hat. Rezepte sollen im britischen System direkt vom Arzt zur aushändigenden Apotheke geschickt werden, was ein drittes System erledigt. Schließlich ist ein viertes System geplant, mit dem Arztbriefe, Röntgenbilder usw. zwischen Arzt und Krankenhaus verschickt werden. Es ist derzeit bei 30 Krankenhäusern im Testbetrieb.

Als das Gesamtprojekt im Jahre 2002 geplant wurde, rechnete man mit 6,8 Milliarden Pfund, fast 10 Milliarden Euro. Anfang Juli dieses Jahres hat der britische Rechnungshof (National Audit Office) die Kosten analysiert und kam dabei auf 12,4 Millarden Pfund, gut 18 Milliarden Euro. Von den vier Teilsystemen sind "Choose and Book" sowie der Rezeptversand an die Apotheken weit fortgeschritten. Eine große Enttäuschung im britischen Gesundheitssystem sind jedoch die Ärzte: nur 12 Prozent buchen Termine online, nur 15 Prozent verschicken Rezepte an die Apotheken. Allerdings kann man ihnen schwer den Schwarzen Peter zuschieben. Ihre Bedenken, dass das Arztgeheimnis nicht gewahrt bleibt, weil jeder Arzt und Apotheker in die Patientenakte schauen kann, wurden lange Zeit nicht gehört. Erst nach einer vernichtenden Analyse durch britische Datenschützer wurde im Mai 2005 mit der "Care Record Guarantee" eine Datenschutzregelung aufgelegt, die die Zugriffsregeln auf die Patientendaten definierte. Zu spät: Nach der regelmäßig durchgeführten Akzeptanzanalyse der Firma Medix-UK finden nur 26 Prozent der Ärzte Gefallen an der medizinischen Telematik. Im Jahre 2002 lag die Akzeptanz zu Beginn bei traumhaften 88 Prozent, 2004 (Start der Subsysteme) bei 59 Prozent. (Detlef Borchers) / (jo)