Vinton Cerf denkt an Internet-Neustart

Forschungsprojekte an US-amerikanischen Universitäten befassen sich intensiv mit einem Internet-Neuansatz -- viele der überalterten Konzepte will man über Bord werfen oder nach heutigen Maßstäben neu entwickeln.

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Von
  • Carsten Meyer

Die Idee mag abwegig, ja fast absurd erscheinen, aber viele Informatik-Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass eine völlige Umstrukturierung und ein radikaler "Kaltstart" die mannigfaltigen Probleme des heutigen Internet am elegantesten lösen könnte. Als Professor Leonard Kleinrock im "Summer of '69" die ersten Datenpakete zwischen entfernt aufgestellten Großrechnern austauschte, waren Spam, Trojaner und DoS-Attacken noch in sehr weiter Ferne -- Datenfernübertragung war eine Einrichtung von Wissenschaftlern für Wissenschaftler, an Sicherheits-Aspekte dachte lange -- nach heute einhelliger Meinung viel zu lange -- niemand. Dass das Internet überhaupt noch funktioniert, hält Professor Dipankar Raychaudhuri von der Rutgers-Universität für ein Wunder: Das Internet sei unter völlig anderen Gesichtspunkten herangewachsen -- als Rechner langsam, Speicherplatz teuer und die Verbindungen unzuverlässig waren. Es sei Zeit, die zugrundeliegende Architektur grundlegend zu überdenken -- was im Ernstfall den Austausch vieler Netzwerk-Hardware und das Neuschreiben von Abermillionen Programmzeilen nach sich zöge. Im Gegenzug erhielte man ein Netz, das die bestehenden Verbindungen viel effizienter nutze. Sogar Vinton Cerf, einer der Väter des Internet, hält den Ansatz für "durchaus fruchtbar", weil die heutige Technik "längst nicht allen Ansprüchen genüge".

Die National Science Foundation arbeitet bereits an einem experimentellen Netz namens "Global Environment for Network Innovations" (GENI) und gründet über das "Future Internet Network Design" entsprechende Forschungsvorhaben an den US-amerikanischen Universitäten. Unter den Universitäten, die eigene Projekte verfolgen, finden sich neben Rutgers auch so prominente Namen wie Stanford, Princeton, Carnegie Mellon und das Massachusetts Institute of Technology (MITS). Regierungsbehörden wie das amerikanische Defense Department oder das europäische "Future Internet Research and Experimentation" (FIRE) arbeiten ebenfalls an derartigen Konzepten.

Der "Clean Slate" genannte Ansatz könnte zunächst parallel zum bestehenden Internet laufen und es irgendwann ersetzen, was laut GENI aber frühestens in 15 Jahren denkbar wäre -- mit den Forschungen sei man noch in einer sehr frühen Phase. Guru Parulkar, dezidierter Leiter der Stanford'schen Initiative, beziffert allein den GENI-Forschungsaufwand auf mindestens 350 Millionen US-Dollar, die restlichen Projekte auf zusammen 300 Millionen. Davon seien bereits "einige zehn Millionen" verbraucht.

Dass das Geld gut angelegt ist, findet auch Jonathan Zittrain, Rechtsgelehrter und Professor an den Universitäten von Oxford und Harvard, selbst wenn man die Milliarden für die letztendliche Umsetzung hinzuzieht: "Das Internet ist für viele absolut überlebenswichtig", während es zu seiner Anfangszeit eine rein experimentelle Natur gehabt hätte: "Die Internet-Erbauer setzten auf Vertrauen und Ehrlichkeit -- man kannte sich ja und hielt die Türen weit offen." Ein weiterer Trugschluss war anzunehmen, dass sich die teilnehmenden Rechner immer an ein und demselben Ort befinden würden. Nick McKeown aus Stanford bezeichnet die mobile Internet-Anbindung denn auch treffend als "Workaround", der solange funktioniere, wie das mobile Datenaufkommen nur ein Bruchteil des drahtgebundenen ausmache.

Der immer noch aktive Leonard Kleinrock bezweifelt nach einem Bericht des amerikanischen Online-Wissenschaftsmagazins Physorg allerdings, dass es noch zu seinen Lebzeiten zu einem Internet-Neustart kommen wird: "GENI wird das Internet bestimmt nicht ersetzen, aber viele der Entwicklungen werden wohl irgendwann dort Eingang finden. Zumindest hilft es, auch mal über den Tellerrand zu schauen". (cm)