Bürgerrechtler gegen "präventive Totalüberwachung" bei Internetdelikten

Verbände aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft üben scharfe Kritik am Antrag der Großen Koalition zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten.

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Verbände aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft üben scharfe Kritik am nun auch offiziell eingereichten Antrag der Großen Koalition (Bundestagsdrucksache 16/545) zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten. Der Datenschutzinitiative Stop1984 etwa ist ein Dorn im Auge, dass Union und SPD den Zugriff von Sicherheitsbehörden auf die Datenberge auch bei Verdacht auf Bagatelldelikte im Internet gestatten wollen. Eine derartige "präventive Totalüberwachung" bei minderschweren Straftaten sei "nicht tragbar". Letztlich wäre es so zur Verwendung der Informationen über die sensiblen elektronischen Nutzerspuren auch für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nur noch ein kleiner Schritt. Das Vorhaben der Regierungsfraktionen stehe zudem in einem "eklatanten Widerspruch" zum ursprünglichen Anspruch der Richtlinie, der Terrorismusbekämpfung zu dienen.

Für Stop1984 liegt der Verdacht nahe, dass die Möglichkeit geschaffen werden soll, zukünftig auch für zivilrechtliche Prozesse wie zum Erstreiten von Schadensersatz Zugriff auf die Verbindungs- und Personendaten von Telekommunikationsteilnehmern zu gestatten. Insbesondere Musik- und Filmindustrie hätten hier bereits Interesse angekündigt. Aber auch Abmahnungen zur Unterbindung unliebsamer Meinungsäußerungen könnten so schneller zum Erfolg führen. Der "Kompromiss" von Schwarz-Rot sei daher unverhältnismäßig und hebe die Zweckbindung bei der Verwertung der angehäuften Daten auf. Es sei anzunehmen, dass die gespeicherten Daten dann auch schnell nur bei Verdacht auf Leistungsmissbrauch Institutionen wie Krankenkassen, Versicherungen oder Sozialämtern zur Verfügung gestellt werden.

Scharfe Kritik an dem Antrag, den die Große Koalition Mitte der Woche beschlossen hat und dessen baldige Verabschiedung im Plenum des Bundestags damit als sicher gilt, kommt auch von der Internet Society Deutschland (ISOC). Vorstandmitglied Hans-Peter Dittler betonte gegenüber heise online, dass mit der Formulierung im Koalitionsantrag "alles, womit ich mich im Internet verdächtig mache", eine Datenabfrage durch die Sicherheitsbehörden erlaube. Die schwammigen Vorgaben der Richtlinie müssten bei der deutschen Umsetzung noch deutlich präziser und enger gefasst werden. Die Vertreter von CDU/CSU und SPD machen sich in der vor allem umstrittenen Passage ihres Papiers wörtlich dafür stark, die Datenabfrage auf die "Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten" zu beschränken.

Weiteren Klärungsbedarf sieht Dittler bei den Vorgaben, was genau überhaupt von den Providern für die von der Großen Koalition befürworteten sechsmonatige Frist aufbewahrt werden soll. "In der Richtlinie ist von Angaben zum Beginn und Ende einer Telekommunikation sowie zu den Kommunikationspartnern die Rede", führt der IT-Berater aus. Die Aufzeichnung der Daten zum Aufbau und zur Einwahl bei einer Netzverbindung würde dem nicht genügen. "Jeder Web- und Datenbankzugriff, jede VoIP-Verbindung müsste gespeichert werden", hält Dittler fest. Damit würden die Ausmaße der pauschalen Überwachungsmaßnahme gigantisch anwachsen. Dazu käme, dass die kostspieligen Auflagen etwa bei verschlüsselten Webseite-Abrufen oder bei der VoIP-Signalisierung via TLS (Transport Layer Security) ins Leere laufen würden.

Auch gegenüber den Sicherheitsvorkehrungen bei manchem Provider zeigt Dittler sich skeptisch. Er fürchtet, dass es den ein oder anderen Anbieter in den Finger jucken könnte, selbst "blitzschnell" Suchanfragen in den Datenbergen durchzuführen. Offen sei zudem der Umgang mit der Tatsache, dass eine IP-Adresse bei ADSL-Verbindungen auch nach der Trennung vom Provider im Datenverkehr bei der Neuvergabe der Kennung noch einige Minuten dem Vorbesitzer zugerechnet werde.

Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender des Verbands der deutschen Internetwirtschaft eco, hält die geplante Kostenentschädigung der Wirtschaft für einen "Tropfen auf den heißen Stein". Die Verantwortlichen in der Politik wissen seiner Ansicht nach immer noch nicht, was für eine Datenflut auf die Behörden zukomme. Das Augenmerk müsse sich daher mittelfristig auf die Statistik zur Nutzung der Überwachungsmaßnahme richten, die laut der Direktive erstellt werden soll. Zudem hält es Rotert für unabdinglich, dass Berlin die maximale Implementierungszeit von 36 Monaten ausschöpft.

Günter Krings, Rechtsexperte der Unionsfraktion im Bundestag, hält die Bedenken für überzogen. Schon jetzt würden viele der gewünschten Daten aus Abrechnungsgründen gespeichert, auch von Flatrate-Anbietern, sagte er auf der Konferenz der deutschsprachigen Domain-Registries Domain Pulse am heutigen Freitag in Berlin. Derartige Vorhaltepraktiken sind rechtlich allerdings umstritten. Krings rechnet auf jeden Fall bei der Vorratsdatenspeicherung mit "besseren" Erfahrungen der Zugangsanbieter als bei der Pflicht zur E-Mail-Überwachung. Das Hauptproblem wäre, "wenn Strafverfolgungsbehörden alle paar Tage vor der Tür" der Provider stünden. Die geplante Kostenerstattung könnte hier mäßigend wirken.

Vertreter der Oppositionsparteien hatten dem Implementierungsantrag der Großen Koalition auf der Tagung wenig entgegenzusetzen. Laut Hans-Joachim Otto, Vorsitzender des Medienausschusses des Bundestags, kommt bei der Vorratsdatenspeicherung zwar "ein bisschen George Orwell" vor. Man dürfe sich aber nicht in die Tasche lügen und so tun, als ob nicht das Internet und E-Mail für neue Verbrechen immer größere Bedeutung erlangt hätten. Grietje Bettin, medienpolitische Sprecherin der Grünen, schob den Schwarzen Peter auf die über Brüssel gegebenen Möglichkeiten zur Umgehung nationaler demokratischer Verfahren.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (jk)