Reale Suchtgefahr fürs virtuelle Ich

Vor allem Rollenspiele verschaffen Internetnutzern die in der Realität fehlende Anerkennung und Belohnung. Dann wird der Alltag nach dem Spiel ausgerichtet, die Nutzung exzessiv: Manche Spieler sitzen täglich mehr als sieben Stunden vor dem Computer.

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Von
  • Karoline Rösner
  • dpa

Manche haben erst mit dem zweiten Ich Erfolg. virtuell, im Internet. Vor allem Rollenspiele im World Wide Web verschaffen Internetnutzern die Anerkennung und Belohnung, die sie in der Realität vermissen. "Viele Jugendliche erleben im Internet Erfolge, die sie sonst im Leben nicht haben", sagt die Medienpädagogin und Erziehungsberaterin Sabine Schattenfroh aus dem lippischen Lemgo. Die Erfolge machen glücklich und geben ein gutes Gefühl. "Das macht das Suchtpotenzial von Online-Rollenspielen aus", erläutert Psychologe Manfred Beutel, Direktor der Kliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Das größte Online-Rollenspiel "World of Warcraft" bringt mehr als zehn Millionen angemeldete Nutzer zusammen. Sie basteln sich ein Avatar, ein zweites Ich, das Abenteuer erlebt und mit jedem weiteren Level an Macht gewinnt. Man sitzt alleine vor dem Computer und ist doch unterwegs – grenzenlos. "Es gibt keinen Zaun wie auf dem Spielplatz", erklärt Sabine Schattenfroh. Das Spiel pausiert und endet nicht, es funktioniert nach dem Belohnungsprinzip. Jeder Spieler hat die Kontrolle über seine virtuelle Persönlichkeit, denn je mehr Zeit er investiert, desto stärker wird der Charakter der künstlichen Identität.

Nach Ansicht der Experten tauchen die Spieler ab in ein Land, in dem sie die Kontrolle über das Geschehen haben, Sehnsüchte, Träume und Wünsche ausleben können. Der Alltag werde nach dem Spiel ausgerichtet und die Nutzung zunehmend exzessiv. Betroffen seien vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, vorwiegend männlich, erläutert der Psychologe. Das bestätigt eine Studie der Humboldt-Universität Berlin mit mehr als 5200 befragten, im Schnitt 16 Jahre alten Schülern. "Vier Prozent können als exzessive Nutzer bezeichnet werden", sagt Ralf Demmel, Psychologe der Universität Münster. "Jungen zwischen 14 und 17 Jahren sind mit fast sechs Prozent die am stärksten betroffene Gruppe."

Kein Rollenspiel, aber dennoch beliebt ist "Second Life", dessen Bewohner sich in der virtuellen Welt treffen, Häuser bauen oder Handel treiben. "Second Life ist jedoch nicht als Spiel mit einem Spielziel angelegt", erklärt Prof. Stefan Bieletzke, Experte für Neue Medien an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld. Die Erwartungen nach der Einführung im Jahr 2003 waren überhöht, meint er.

Der Psychologe Beutel leitet seit März 2008 am Klinikum Mainz das Modellprojekt "Ambulanz zur Behandlung von Computerspiele und Internetsucht". Binnen drei Monaten sei die Ambulanz auf mehr als 200 Patienten gekommen, bei steigender Nachfrage. Das Problem: solange die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Suchtformen nicht als eigenständige Krankheiten einstuft, übernehmen die Krankenkassen nicht die Arzt- und Therapiekosten.

Doch es gibt keine übereinstimmenden Definitionen, im Zusammenhang mit Medien ist der Begriff "Sucht" umstritten und bisher nicht anerkannt. "Exzessive Nutzung des Internets beginnt bei rund fünf Stunden pro Tag", meint Beutel. Doch das Verlangen nach dem zweiten Ich ist bei manchen Spielern so groß, dass sie mehr als sieben Stunden vor dem Computer sitzen – täglich. Als Suchtkriterien nennt Beutel neben dem unwiderstehlichem Verlangen und der verminderten Kontrollfähigkeit auch Entzugserscheinungen wie Nervosität oder Konzentrationsschwächen sowie Vernachlässigung von sozialen Beziehungen und Interessen in der realen Welt. "Dabei schwanken die Zahlen von 2,7 bis 13 Prozent, die Datenlage ist sehr gering", erklärt Beutel.

Damit Kinder erst gar nicht in diese Situation geraten, fordert Medienpädagogin Schattenfroh eine sorgfältige Erziehung. Doch oft fehle es in Familien an Zuwendung und Aufmerksamkeit. Die 47 Jahre alte Mutter von zwei Kindern arbeitet als Erziehungsberaterin für die Initiative "Eltern und Medien" von der Landesanstalt für Medien NRW. Sie fordert, Alternativen aufzuzeigen und vermutet, dass Eltern häufig Diskussionen aus dem Weg gehen möchten: "Wenn die Kinder vor dem Computer sitzen, gib es keine Konflikte". Dabei sei es wichtig, sich mit der Mediennutzung der Kinder auseinanderzusetzen. "In der Schule sollten die Kleinen von Anfang an neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch Medienkompetenz lernen." (Karoline Rösner, dpa) / (uh)