Der Falke ist schon weg – Rückbau des AKW Mülheim-Kärlich

Es ist ein Symbol für das Ende der Atomkraft in Deutschland: Am Rhein bei Koblenz wird seit Jahren das AKW Mülheim-Kärlich zurückgebaut. Am Netz war es nur 13 Monate, die Abwicklung dauerte Jahrzehnte.

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Von
  • Christian Schultz
  • dpa

Einst hatte ein Falke an der Fassade des Kühlturms am Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich seinen Horst. Mittlerweile wurde er umgesiedelt und lebt in der Nähe auf einem Funkmast. Seine alte Bleibe war das AKW, aber das wird zurückgebaut. Am Netz war es nur 13 Monate, vor 25 Jahren kam das gerichtliche Aus. Der Rückbau der riesigen Anlage bei Koblenz ist das letzte Kapitel einer eigenwilligen Geschichte.

Noch ist der Kühlturm, der mit 162 Metern 5 Meter höher ist als der Kölner Dom, im gesamten Neuwieder Becken zu sehen. In den kommenden Jahren wird der Betonkoloss nach und nach verschwinden, wie die Sprecherin von Kraftwerksbesitzer RWE Power, Dagmar Butz, sagt. "Dann ist die Anlage weitgehend aus der Wahrnehmung geräumt." Einst arbeiteten hier 650 Menschen, nun sind es noch etwa 60 für RWE und 80 für andere Firmen. Es herrscht ein Hauch von Endzeitstimmung auf dem Areal.

Im Dezember 1972 wurde der Genehmigungsantrag gestellt, am 18. August 1987 ging die Anlage ans Netz. Nach nur 13 Monaten wurden sie nach einer Verfügung des Bundesverwaltungsgerichts abgeschaltet. Die Gefahr einer unterirdischen Verwerfungslinie – einer Bruchstelle im Gestein – war nicht ausreichend berücksichtigt worden. Offiziell hieß es in der Begründung: Eine Teilgenehmigung des Kraftwerks ist wegen eines Verfahrensfehlers nicht rechtskräftig.

Kurt Sesterhenn, Leiter für die Überwachung des AKW, erläutert: "Es war ein formaljuristischer Fehler im Genehmigungsverfahren." Die Verwerfungslinie sei direkt unter dem ursprünglich geplanten Standort des Reaktorhauses gewesen und hätte zu Rissen führen können. Daraufhin wurde das Haus um ein paar Meter versetzt. Diese Änderung wurde aber nicht in die erste – bereits erteilte – Teilgenehmigung der Anlage eingefügt. Erst in der zweiten Teilgenehmigung wurde die Verschiebung berücksichtigt – mit Folgen.

Es entwickelte sich ein langer Rechtsstreit, der im Jahr 2000 mit dem Beschluss der rot-grünen Bundesregierung zum Ausstieg aus der Kernenergie hinfällig wurde. Bis Sommer 2002 kamen die 209 Brennelemente in die französische Wiederaufbereitungsanlage La Hague, die Reste lagern mittlerweile in Gorleben. Seit Juli 2002 gilt die Anlage als kernbrennstofffrei, der Abbruch begann 2004.

Damit endete auch ein jahrelanger Kampf von Atomkraftgegnern. Gegen die Anlage geklagt hatte die BUND-Vorgängerbewegung Bürgerinitiative für Umwelt- und Naturschutz. Noch heute betrachtet es der rheinland-pfälzische BUND-Landesverband als großen Sieg, dass das AKW schnell wieder vom Netz ging. "Das war schon ein Erfolg", sagte der stellvertretende Landesvorsitzende Holger Schindler jüngst anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Landesverbandes.

Das Maschinenhaus des AKW ist schon leer, wie RWE-Sprecherin Butz erklärt. Viele Teile lagern im niederländischen Eemshaven, sie sollen nach Ägypten verschifft und dort in einem Kraftwerk verwendet werden. Innerhalb der Anlage weht der Duft der 80er Jahre, es dominieren die Farben Grau und Braun, Telefone mit Wählscheiben hängen an Wänden.

Durch Stahlschleusen geht es in das Herzstück, das Reaktorgebäude. Dort ruht der Reaktordruckbehälter unter Beton, daneben liegt das leere Abkühlbecken für Brennelemente. Schilder mit der Aufschrift "Restbetrieb" haften auf Rohrleitungen. Da es seit 25 Jahren keine Kernspaltung mehr gegeben habe und der Regelbetrieb nur kurz war, sei weniger Radioaktivität da als in anderen Anlagen, erklärt Butz.

Jeder, der in das Gebäude geht, bekommt ein Dosimeter zur Messung der Strahlenbelastung. Es müssen Schutzanzüge und Überschuhe getragen werden, beim Rausgehen wartet ein Ganzkörper-Monitor. "Keine Kontamination", sagt eine Stimme, grünes Licht leuchtet auf. Dies ist auch der tägliche Gang der am Rückbau beteiligten Arbeiter. Sämtliche abgebauten großen und kleinen Teile werden vor dem Abtransport unter die Lupe genommen. "Jede Schraube wird gemessen", sagt Butz.

Insgesamt kommt ordentlich Material zusammen: Die ursprüngliche Gesamtmasse des AKW lag bei 500.000 Tonnen, 300.000 Tonnen aus dem nuklearen Bereich. Selbst hier ist der Großteil mit 284.000 Tonnen – überwiegend Betonstrukturen – laut RWE nicht verunreinigt. Der Rest teilt sich auf in oberflächlich kontaminierte und aktivierte Teile. Oberflächlich kontaminierte Teile werden mit Wasser gereinigt, kommen in Boxen und werden an Wertstoffhändler verkauft. Rund 50.000 dieser Gitterboxen haben die Anlage schon verlassen. Aneinandergereiht würde dies eine Reihe von 50 Kilometern Länge ergeben, erklärt Sesterhenn.

Anders der Weg des aktivierten Materials: "Da können sie nichts mehr mit einer Reinigung machen", sagt Butz. Hiervon sind bislang etwa 100 Tonnen angefallen. Bis zum Ende der Arbeiten sollen es rund 1700 Tonnen werden. Die Menge wird möglichst gering gehalten. Denn: Jedes Fass kostet RWE Geld, wie Sesterhenn sagt. Möglichst viel belastetes Material werde verbrannt und verascht. "Das dient der Volumenverringerung." Trotz allem bleibt der radioaktive Müll der Flaschenhals des Rückbaus. Denn er soll einmal in den Schacht Konrad in Salzgitter kommen, das Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle. Doch dort dürfte frühestens 2019 die Einlagerung beginnen.

Insgesamt sind für die Arbeiten in Mülheim-Kärlich Kosten von 750 Millionen Euro veranschlagt. Kostensteigerungen über die Jahre mit eingerechnet, dürfte es am Ende aber etwas mehr sein, wie Butz sagt.

Auch die rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerin Eveline Lemke (Grüne) freut sich über den Abbau. "Die Geschichte von Mühlheim-Kärlich ist die von Pleiten, Patzern und ungeheuerlichen Pannen", sagt sie. Kühlturm und Reaktordruckbehälter würden in der Region als Mahnmal für eine extrem gefährliche Energietechnik angesehen, die nur noch ins Geschichtsbuch gehöre. "Deswegen hat der Abbau der gesamten Anlage natürlich auch eine symbolische Bedeutung." (anw)