Am Puls des globalen Einzelhandels

Eine neue App sammelt Preise von Verbraucherprodukten aus Hunderten Städten weltweit. Daraus sollen zuverlässiger als bisher Inflationsraten und Versorgungsengpässe prognostiziert werden.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 4 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Tom Simonite

Eine neue App sammelt Preise von Verbraucherprodukten aus Hunderten Städten weltweit. Daraus sollen zuverlässiger als bisher Inflationsraten und Versorgungsengpässe prognostiziert werden.

Im September berichteten Wirtschaftsmedien, dass der Preis für Zwiebeln in Indien plötzlich um 300 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen war. Analysten warnten, der Preisanstieg könne auf eine bevorstehende Wirtschaftskrise deuten, und die Research Bank of India erhöhte flugs ihre Zinssätze. Mit Hilfe einer neuen App will das Start-up Premise sicherstellen, dass solche Maßnahmen künftig immer rechtzeitig getroffen werden. Über 700 Menschen in verschiedenen Städten rund um die Welt speisen Preise von wichtigen Alltagsprodukten aus lokalen Geschäften in die App ein – und sollen so der Weltwirtschaft genauer als bisher den Puls fühlen.

Denn viele Geschäfte reagieren rasch auf Veränderungen in der Wirtschaft, auf Großhandelspreise und die Zuversicht der Verbraucher. „All diese Informationen sind in Ladenregalen versteckt, obwohl sie da direkt erkennbar wären“, sagt David Soloff, Mitgründer von Premise. „Bislang gab es keine Möglichkeit, sie zusammenzusuchen und auf sinnvolle Art und Weise miteinander zu verknüpfen.“

Aus den so gewonnenen Daten könnte man dann beispielsweise Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung ableiten. Inflationsraten haben einen erheblichen Einfluss auf die Finanzindustrie, Regierungen richten an ihnen ihre Geld- und Fiskalpolitik aus. Allerdings werden sie überlicherweise nur einmal im Monat aktualisiert. Mit seinen eigenen Analysen sei Premise in der Lage, Inflationsraten bereits vier bis sechs Wochen im voraus zuverlässig zu prognostizieren, sagt Soloff und fügt hinzu: „Die Wettervorhersage wird ja auch nicht nur einmal im Monat erstellt.“

Die Stärke die Ansatzes konnte Premise in den vergangenen Wochen während des finanziellen „Shutdowns“ der US-Behörden unter Beweis stellen. Während die US-Regierung aufgrund der Ausgabensperre die Erstellung von Preisindizes stoppen musste, sammelte Premise weiter Daten. Dazu gehören Online-Preise ebenso wie Preise aus dem Einzelhandel.

Die meisten Datenzulieferer für Premise sitzen indes in den Metropolen Lateinamerikas und Asiens. Verbraucherpreisindizes seien für viele Unternehmen von Interesse, vor allem Preisentwicklungen in China, Indien und Brasilien, sagt Soloff. „In diesen aufstrebenden Volkswirtschaften ist unsere Analyse keine Ergänzung, sondern die erste Quelle überhaupt. Wir sind die ersten, die dort Preise kartieren.“

Praktisch sieht das so aus, dass die Premise-Datenzulieferer täglich eine Agenda in ihrer Android-App finden: welche Läden sie aufsuchen, welche Produktpreise sie notieren sollen. Zusätzlich sollen sie von dem jeweiligen Produkt ein Foto im Ladenregal schießen. Alle Daten werden nur mit Zustimmung der jeweiligen Filialleiter oder Geschäftsinhaber gesammelt. Für jeden Produktpreis, den sie übermitteln, bekommen die Zulieferer fünf bis 15 Cent. Bis zu 250 Produkte erfassen sie an einem Tag, was zusammengenommen einige Stunden dauern kann. Die Einzelaufgaben sind aber so gestellt, dass sie sich auch neben dem Studium oder einem anderen Job erledigen lassen sollen.

Premise-Kunden können auch gezielt Fragen an die Datenzulieferer übermitteln. Unternehmen würden sich zum Beispiel dafür interessieren, wie teuer ihr eigenes Produkt im Vergleich zu Konkurrenzprodukten auf bestimmten Märkten angeboten werde, sagt Soloff.

Man arbeite bereits mit einigen Herstellern von Verbraucherprodukten zusammen und habe begonnen, Daten Finanzdienstleistern zur Verfügung zu stellen. Bloomberg bietet seit August Zugang zu ausgewählten Premise-Daten zu Inflationsraten. Zu den Investoren von Premise zählen Harrison Metal, Andreessen Horowitz und Google Ventures. Hal Varian, Chefvolkswirt von Google, berät das Start-up.

Dessen Daten könnten tatsächlich ein neues Verfahren sein, um Preisentwicklungen und ihre Auswirkungen auf Volkswirtschaften zu verfolgen, sagt Alberto Cavallo. Der MIT-Ökonom ist Mitgründer von PriceStats, einer Firma, die selbst auf Basis von Online-Preisen in 70 Ländern Inflationsraten und Preisindizes berechnet – aber eben nur Online-Preise berücksichtigt.

Premise müsse aber sicherstellen, dass seine Datenzulieferer jeden Tag die Preise genau derselben Produkte notierten. Forschungsprojekte zur Preisermittlung über Apps hätten gezeigt, dass die Daten nicht immer zuverlässig waren, sagt Cavallo. Manchmal hätten die Projektmitarbeiter unterschiedliche Packungsgrößen oder Varianten eines Produkts versehentlich im selben Datensegment festgehalten. „Das ist wohl die größte Schwierigkeit beim Crowdsourcing", betont Cavallo. „Wenn Premise die im Griff hat, könnte ihre App ein sehr nützlicher Ansatz sein.“

Premise-Mann Soloff versichert, man habe mehrere Ebenen zur Qualitätskontrolle eingebaut. Die Zulieferer würden sorgfältig auf ihren Job vorbereitet, und die App könne zu jedem Preis den Ort und andere Metadaten überprüfen. Laut Soloff überlegt das Start-up auch, Bilderkennungssoftware einzusetzen, um die hochgeladenen Produktfotos automatisch auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Das würde darüberhinaus noch die Möglichkeit bieten, weitere Informationen zu sammeln, etwa, ob ein Lebensmittel frisch ist oder ob von einem Produkt nur noch wenige Exemplare im Regal übrig sind, also ein Ausverkauf absehbar sei.

Nicht nur die Finanzindustrie könnte von den Daten von Premise profitieren. Die UNO hat bereits ein Preisüberwachungsprogramm namens Global Pulse laufen. Hierfür ermittelt Cavallo mit seiner Firma PriceStats Brotpreise in mehreren lateinamerikanischen Ländern. Das Programm errechnet Trends für den künftigen Brotpreis und kann Regierungen und NGOs warnen, wenn Versorgungskrisen drohen. Für solche Programmen eigneten sich auch die Daten von Premise, sagt Cavallo, vor allem könnten sie in entlegenen Gebieten, etwa in Afrika, helfen, wo sich keine Online-Preise ermitteln lassen.

(nbo)