"Das soziale Gehirn taucht einfach auf"

Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Saxe über soziale Kognition, die Irrtümer der Hirnforschung in der Vergangenheit und die Chancen für die Künstliche-Intelligenz-Forschung.

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Von
  • Courtney Humphries

Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Saxe über soziale Kognition, die Irrtümer der Hirnforschung in der Vergangenheit und die Chancen für die Künstliche-Intelligenz-Forschung.

Die Fähigkeit wahrzunehmen, was andere Menschen denken und fühlen, ist eine entscheidende Voraussetzung für soziale Interaktion und ein Schlüsselelement der menschlichen Erfahrung. Es ist deshalb keine Überraschung, dass das menschliche Gehirn einen Großteil seiner Ressourcen für die sogenannte soziale Kognition abstellt. Doch erst in letzter Zeit hat die Hirnforschung begonnen, die damit verbundenen Hirnregionen und – prozesse zu identifizieren und zu analysieren.

Ein Verständnis davon, wie das Gehirn andere Menschen wahrnimmt, interpretiert und Entscheidungen über sie fällt, könnte zu Therapien für Autismus und andere Störungen sozialer Interaktionen beitragen. Auch könnte es bei der Entwicklung von Computern mit mehr sozialer Intelligenz helfen. Bislang hat sich die Künstliche-Intelligenz-Forschung damit schwergetan, Rechner so zu programmieren, dass sie soziale Einschätzungen vornehmen können, die uns Menschen so leicht fallen. Dazu gehört das Erkennen mehrdeutiger Gesichtsausdrücke oder, ob Worte Ärger oder Traurigkeit ausdrücken.

Vor über zehn Jahren entdeckte die Neurowissenschaftlerin Rebecca Saxe eine Hirnregion, die eine „Theory of Mind“ entwickelt – einen Sinn für die Gedanken oder Gefühle anderer Menschen. Seit einiger Zeit arbeitet sie am MIT Center for Minds, Brains and Machines, wo sie Autismus und die soziale Kognition von Kindern und Erwachsenen untersucht. Technology Review sprach mit Saxe über ihre Arbeit, die Irrtümer der Hirnforschung in der Vergangenheit und die Chancen für die Künstliche-Intelligenz-Forschung.

Technology Review: Gibt es soziale Kognition nur bei Menschen?

Rebecca Saxe: Es gibt Grund zu der Annahme, dass wir Menschen zumindest in mancher Hinsicht hierbei einzigartig sind. Menschen sind bei weitem die sozialste Art, neben Insekten. Schon die Interaktion, die Sie und ich jetzt haben – zwei Fremde treffen sich und kooperieren ohne besonderen Grund für eine Stunde –, ist außerhalb der menschlichen Art unbekannt. Wenn zwei Ameisen das tun würden, wären sie Schwestern. Unser außergewöhnlich soziales Leben und unsere komplexen kognitiven Fähigkeiten machen die menschliche soziale Kognition zu etwas Besonderem.

TR: Wie kann man sie im Gehirn untersuchen?

Saxe: Nicht mit invasiven Methoden – also ohne Gentechnik oder Optogenetik, nichts davon. Wir beschränken uns auf sogenannte non-invasive neuro-bildgebende Verfahren. Das bekannteste ist die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI), die den Blutdurchfluss als Maß für eine neuronale Aktivität nimmt.

TR: Sie können also erkennen, welche Hirnareale aktiv sind, wenn Menschen über andere Menschen nachdenken? Hat es Sie überrascht, eine Hirnregion zu finden, die für die soziale Kognition verantwortlich ist?

Saxe: In gewissem Sinne hatte man dies schon 15 oder 20 Jahre früher vermutet. Damals merkte man, dass autistische Kinder überdurchschnittlich schlecht in sozialer Kognition waren. Aber davon abgesehen war dies völlig unbekannt. Ich glaube, in gewisser Weise war es schon die wichtigste, die überraschendste neue Entdeckung in der Hirn- und Kognitionsforschung des Menschen. Das Sehzentrum, die Hirnregionen für Sinneswahrnehmungen und für Bewegungen – wir hatten vorausgesagt, dass es sie geben würde. Das soziale Gehirn hingegen wurde nicht vorhergesehen. Es tauchte einfach auf. Das war schon wild.

In den letzten zehn Jahren haben wir versucht, unsere Interpretation zu verfeinern, welche Information in diesen Hirnregionen steckt, wie sie miteinander wechselwirken, sich entwickeln, ob diese Hirnregionen irgendetwas mit Autismus zu tun haben oder nicht.

TR: Funktionieren diese Hirnregionen bei Autisten tatsächlich nicht so gut?

Saxe: Das war die ursprüngliche Hypothese, die wir untersuchten. Vielleicht lösen Menschen mit Autismus soziale Probleme mit einer Hirnmaschinerie, die wir für andere Aufgaben einsetzen würden, anstatt eine Maschinerie zu nutzen, die explizit dafür gedacht ist. Es gibt keinen Beleg dafür, dass dies stimmt. Was schade ist, weil mir die Idee gefällt. Autismus hat sich als ein auf jeder Ebene sehr viel schwierigeres Problem entpuppt, als irgendjemand erwartet hatte. Vor zehn Jahren dachte man, dass Autismus kognitiv, neuronal und genetisch zu entschlüsseln wäre. Inzwischen sieht es so aus, als gäbe es Tausende genetische Varianten von Autismus.

TR: Wie könnte Ihre Arbeit zu Computern mit verbesserten sozialen Fähigkeiten beitragen?

Saxe: Die Signatur menschlicher sozialer Kognition ist für mich dasselbe, was die gute alte KI so schwierig macht: die „Generativität“. Wir können eine wirklich unendliche Menge von Situationen, Zielen und anderen menschlichen Köpfen erkennen und durchdenken. Und doch tun wir das mit einer besonderen und endlichen Maschinerie. Was also sind die richtigen Zutaten hierfür? Wenn wir das wüssten, könnten wir versuchen zu verstehen, wie Kombinationen aus diesen Zutaten diese massiv produktive, unendlich verallgemeinerbare menschliche Fähigkeit hervorbringen.

TR: Was meinen Sie mit „Zutaten“?

Saxe: Nehmen wir an, Sie hören etwas von einer Freundin. Man hatte ihr gesagt, sie solle ins Büro ihres Chefs kommen, woraufhin sie dachte, sie würde endlich die langersehnte Beförderung bekommen. Tatsächlich wurde sie aber rausgeschmissen. Am nächsten Tag treffen Sie die Freundin auf der Straße und sie lächelt sie strahlend an. Das hatten Sie wahrscheinlich nicht erwartet, ja?

Sie nehmen nun diese Information und konstruieren daraus eine komplette innere Welt. Vielleicht ist ihr Lächeln nicht echt, und sie macht nur gute Miene zum bösen Spiel. Vielleicht ist sie aber erleichert, weil sie nun auf die andere Seite des Kontinents ziehen und mit ihrem Freund zusammen leben kann. Sie müssen herausfinden: Welche Ziele hatte sie? Was wollte sie? Weshalb änderte sie ihre Meinung? Es gibt alle möglichen Elemente dieser Geschichte, die Sie in diesem Moment hervorbringen konnten.

Wäre ein Computer dazu in der Lage, könnten wir die maschinelle Analyse von Stimmungslagen verbessern. In der KI-Forschung arbeitet man zurzeit vor allem daran, anhand der natürlichen Sprache, die Menschen nutzen, herauszufinden: Gefiel ihnen diese Sache oder nicht? Gefiel ihnen dieses Restaurant oder nicht? Nun müssen wir das auf eine Ebene heben, wo wir zwischen Sprachen unterscheiden können, die Enttäuschung, Einsamkeit oder Schrecken ausdrücken. Das ist das Problem, das wir lösen wollen.

TR: Wie können Computer diese Fähigkeit lernen?

Saxe: Sie müssen diese Begriffe in abstraktere Dinge übersetzen – Ziele, Wünsche, Pläne. Mein Kollege Josh Tenenbaum und ich haben Jahre daran gearbeitet, erst einmal eine Art mathematische Darstellung zu entwickeln, was es bedeutet, wenn wir daran denken, dass jemand ein Ziel oder einen Plan hat. Dieses Modell soll dann menschliche Urteile über die Ziele einer anderen Person in einem wirklich einfachen Kontext vorhersagen. Was muss man über ein Ziel wissen? Wir entwickeln Modelle, die Wissen beschreiben.

TR: Das unterscheidet sich deutlich von einem Rechner, der Millionen von Beispielen analysiert, um Muster zu finden.

Saxe: Genau. Das hat nichts mit Big Data zu tun. Es geht darum, die Struktur von Wissen zu beschreiben. Man hat das immer als Gegensatz betrachtet: Die einen wollen immer größere Datensätze, die anderen richtige Wissensstrukturen. Mein Eindruck ist heute, dass es noch viel mehr dazwischen gibt. Was als entgegengesetzte Traditionen der KI-Forschung galt, sollte man vielmehr als einander ergänzend betrachten – man versucht probabilistische Darstellungen zu finden, die aus Daten lernen können.

TR: Dass Computer eine soziale Kognition nachahmen können, ist aber noch weit weg, oder? Wir verstehen ja noch nicht, wie das Gehirn wirklich arbeitet.

Saxe: Es ist gut möglich, dass wir ein umfassendes Verständnis zu meinen Lebzeiten nicht entwickeln werden. Das ist auch in Ordnung, denn es bedeutet, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben. In der Zwischenzeit werde ich alles Erdenkliche dafür tun, dass wir auf dem Weg zu diesem größeren Ziel kleine Fortschritte machen. (nbo)