Der Autismus-Code

Jahrelang erforschten Wissenschaftler erfolglos die Ursachen von Autismus, indem sie unter betroffenen Familien nach gemeinsamen Genen suchten. Nun beginnen Forscher, das Rätsel mit einem neuen Ansatz zu lösen.

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Von
  • Stephen S. Hall

Jahrelang erforschten Wissenschaftler erfolglos die Ursachen von Autismus, indem sie unter betroffenen Familien nach gemeinsamen Genen suchten. Nun beginnen Forscher, das Rätsel mit einem neuen Ansatz zu lösen.

Michael Wigler ging in die neunte Klasse in Garden City, etwa 45 Autominuten östlich von New York, als er den jüngeren Bruder seiner Freundin kennenlernte. Sein Name war David. Er war zehn Jahre alt und auf fesselnde Weise merkwürdig. Vor allem in der zugeknöpften Vorort-Idylle von Long Island in den frühen sechziger Jahren. „Er war wie von einem anderen Stern“, sagt der Wissenschaftler, der heute nicht viel weiter östlich als Genetiker am Cold Spring Harbor Laboratory arbeitet. „Er war so anders als alle, die ich kannte. Zum einen gestikulierte er oft mit weiträumigen Armbewegungen. Dann bewegte er den Kopf viel und sah die Person, mit der er sprach, nie an. Und er hatte ein fast schon unheimliches Wissen über Baseball-Statistiken.“ Davids Schicksal sollte ihn ein halbes Jahrhundert nicht loslassen.

Wigler machte als Genetiker Karriere und gilt heute als einer der originellsten und produktivsten Denker in der Krebsforschung. Zu seinen wichtigsten Erkenntnissen gehört, dass Krebs in der Regel auf spontane, sogenannte De-novo-Mutationen zurückgeht. Diese tauchen innerhalb einer Generation auf und vererben sich nicht von Generation zu Generation, wie es klassische Mendelsche Erkrankungen, etwa Chorea Huntington, tun. Wigler entwickelt neue Techniken zur Identifizierung von De-novo-Mutationen.

Deshalb kam es für viele überraschend, als der heute 67-Jährige vor etwa zehn Jahren in die Autismus-Forschung wechselte. Doch die Entscheidung war folgerichtig. Denn er vermutet, dass die genetischen Ursachen für Autismus nach einem ähnlichen Muster wie bei Krebs entstehen. Das widerspricht der gängigen Lehrmeinung, viele seiner Kollegen lehnen die neue Idee daher ab.

Seit Leo Kanner von der Johns-Hopkins-Universität die Erkrankung 1943 erstmals beschrieb, verzweifeln Ärzte an ihrer komplexen und paradoxen Natur. Die Störungen decken ein Spektrum ab, das von atypischem, aber sehr sinnvollem Verhalten bis zu erheblicher geistiger Behinderung reicht. Zum Durcheinander der Symptome gehören Überaktivität und Rückzug, beeindruckende intellektuelle Kapazität und schwerste Intelligenzminderung, Bewegungsexplosionen und selbstverletzendes Verhalten, jeweils in unterschiedlicher Ausprägung bei verschiedenen Patienten.

Im Laufe der Zeit stellten Forscher ein Sammelsurium einschlägiger Hypothesen für die Ursachen auf, die letztendlich keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielten – von emotional distanzierten Müttern bis zu angeblich schädlichen Substanzen in Impfstoffen für Kinder. Weil Autismus häufig in der Familie liegt, sammelten Wissenschaftler jahrelang Daten betroffener Familien und suchten nach verdächtigen Mutationen, die Eltern womöglich an ihre Kinder weitergaben.

Obwohl die Suche einige gemeinsame Genvarianten bei Menschen mit Autismus zutage förderte, scheint keine dieser Varianten einen signifikanten Einfluss zu haben. Einen „Totalausfall“ nennt Gerald Fischbach diese Strategie. Er ist wissenschaftlicher Direktor der Simons Foundation. Mitbegründer James Simons, ein wohlhabender Hedgefonds-Manager, hat selbst eine Tochter, bei der Ärzte das Asperger-Syndrom diagnostiziert haben, eine dem Autismus-Spektrum zugerechnete Störung. Und er ist der Auslöser für Wiglers Wechsel in die Autismus-Forschung. Im Frühjahr 2003 rief Simons den Krebsforscher an. Der Stiftung lag ein Antrag für ein Forschungsprojekt vor, und Wigler sollte ihn evaluieren. (vsz)