Augenwischerei und Kosmetik bei der Vorratdatenspeicherung

Ein Interview mit der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) über den Plan ihres Nachfolgers Heiko Maas (SPD) zum anlasslosen Protokollieren von Nutzerspuren, die EU-Datenschutzreform, Überwachung durch Google und Facebook sowie den BND-NSA-Skandal.

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Inhaltsverzeichnis

Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013 Bundesjustizministerin. Unter anderem kämpfte sie vehement gegen den Großen Lauschangriff und die Vorratsdatenspeicherung an.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger meint, auch der neue Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung "beinhaltet eine anlasslose und massenhafte Vorratsdatenspeicherung, die gerade durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für nicht vereinbar mit europäischem Recht erklärt wurde. Daran ändert auch die Kosmetik nichts".


Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die Vorratsdatenspeicherung erhitzt weiter die Gemüter. Was halten Sie vom Vorstoß ihres Amtsnachfolgers?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Im ersten Moment musste ich laut lachen: Aus Raider wird jetzt Twix. Aus der Vorratsdatenspeicherung wird jetzt die Höchstspeicherfrist. Nur, da gibt es nichts zu lachen. Die große Koalition führt die alte Vorratsdatenspeicherung wieder ein, mit ein wenig kürzeren Fristen und mit Ausnahme einer Datenart. Augenwischerei wird so etwas genannt.

E-Mail-Adressen sollen nicht mehr gespeichert werden, ist das ein vertretbarer Ansatz?

Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, das Schlimme am dem Kompromiss ist: Wenn die Standortdaten von allen Bundesbürgern erfasst werden, dann übertrifft das sogar die alte Vorratsdatenspeicherung der großen Koalition, die verfassungswidrig war. Wenn Sie Google Maps oder Carsharing benutzen, also Dienste, die mit Ortungsdaten arbeiten, dann sind künftig Ihre Bewegungsdaten metergenau gespeichert – und der Staat darf auf diese Daten zugreifen. Die Metadaten werden also auch noch ausgeweitet.

Justizminister Maas hält den Entwurf aus seinem Ministerium für grundrechtsgemäß. Seine Amtsvorgängerin hält das für Augenwischerei.

(Bild: dpa, Hannibal)

Der Bund deutscher Kriminalbeamter (BDK) hat den Vorstoß zunächst im Großen und Ganzen begrüßt, inzwischen heißt es von dort, Maas sei "eigentlich immer noch ein Gegner der Vorratsdatenspeicherung". Fristen von vier bis zehn Wochen seien zu kurz, der Straftatenkatalog für einen Zugriff reiche nicht aus.

Leutheusser-Schnarrenberger: Der BDK ist in dieser Frage so einseitig: Wo sind die Grenzen von Überwachung, wenn mehr Überwachung angeblich immer mehr Sicherheit bringt? Ich würde mir gerade von Kriminalbeamten einen differenzierten Umgang in dieser Frage wünschen.

Noch ein Zitat vom BDK-Chef Andre Schulz: "Wenn wir auf die Vorratsdatenspeicherung verzichten, dann ist das in etwa so, wie wenn ich als Ermittler weiß: Es gibt an einem Tatort zwar die Fingerabdrücke eines Täters, aber ich ignoriere sie einfach." Zieht das Argument?

Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist so plump wie falsch. Bei einem Fingerabdruck habe ich einen konkreten Hinweis – und ermittle dann. Und ich habe nicht einen Berg voller Fingerabdrücke von allen unbescholtenen Bürgern, den ich dann durchwühle. Ich muss nicht alle Bürger pauschal und ohne Anlass überwachen, indem die Unternehmen gezwungen werden, sämtliche Kommunikationsbeziehungen zu speichern: Wer hat mit wem wann telefoniert? Wer hat mit wem wann SMS geschrieben? Und so weiter. Diese Kommunikationsbeziehungen lassen ja gerade Rückschlüsse auf die Inhalte zu. Sonst sollten sie ja wohl auch nicht gespeichert werden. Deswegen habe ich ja zusammen mit meiner Partei, der FDP, dieses Überwachungsmonstrum verhindert.

Ist die geplante Bestimmung zur Ausnahme von Berufsgeheimnisträgern verfassungskonform, die Zugriffsschranken im Nachhinein aufbauen will?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wie soll das in der Praxis funktionieren? Ich erfasse sämtliche Kommunikationsbeziehungen auf Vorrat und sage dann, die Daten von Anwälten oder Geistlichen werden nicht an die Strafverfolgungsbehörden gegeben? Der Schutz der Berufsgeheimnisträger wird nach der Neuregelung zum Papiertiger, der den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht genügt.

Wie würde sich die geplante neue Vorratsdatenspeicherung auf die Bestandsdatenauskunft auswirken? Die Vorratsdaten sollen hier ohne Richtergenehmigung einbezogen werden können. Was hieße das für die Praxis?

Leutheusser-Schnarrenberger: Der Referentenentwurf ist ja jetzt geleakt worden. Ich halte ihn für einen Schnellschuss mit vielen Fragezeichen. Unjuristisch formuliert: Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung führt zu einer Speicherung von unglaublich viel Metadaten, auf die dann die Strafverfolgungsbehörden unter neuen, anderen Voraussetzungen zugreifen können sollen. Der Entwurf sieht zum Beispiel eine Ergänzung in der Strafprozessordnung vor, damit für Bestandsdatenauskünfte zu IP-Adressen auf den geplanten neuen Paragraph 113b Telekommunikationsgesetz, also die gespeicherten Verkehrsdaten, zurückgegriffen werden darf.

Die Änderungen im Entwurf insgesamt, verbunden mit einer schwer absehbaren Praxis, zeigen eines: Die Reichweite ist wohl selbst dem Ministerium nicht klar. Die Praxis der Telekommunikationsunternehmen scheint man nicht zu kennen und die der Strafverfolgungsbehörden auch nicht. Eines ist aber klar: Auch dieser Gesetzentwurf beinhaltet eine anlasslose und massenhafte Vorratsdatenspeicherung, die gerade durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für nicht vereinbar mit europäischem Recht erklärt wurde. Daran ändert auch die Kosmetik nichts.

Sie hatten zu ihrer Amtszeit einen Vorschlag zu "Quick Freeze"-Plus mit einer ein- oder zweiwöchigen pauschalen Speicherfrist auf den Tisch gelegt. Würden Sie eine solche Initiative angesichts des einschlägigen EuGH-Urteils noch einmal machen oder sagen: "Vorratsdatenspeicherung ist immer anlasslos und geht gar nicht"?

Leutheusser-Schnarrenberger: Also, Ihre Beschreibung meines Vorschlages stimmt nicht. Mein Vorschlag sollte bei einem konkreten Anlass die Kommunikationsbeziehungen von bestimmten Personen für die Zukunft einfrieren. Das ist das Gegenteil einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Es war ein Kompromissvorschlag in seiner Zeit, auch nach dem EuGH-Urteil wäre mein Vorschlag theoretisch möglich. Nur führt diese Debatte keiner mehr. Wir brauchen nicht mehr Überwachung, sondern finanziell und personell besser ausgestattete Sicherheitsbehörden.

Gibt es bei dem Instrument überhaupt einen Spielraum für Kompromisse oder überschreitet man damit immer eine rote Linie?

Leutheusser-Schnarrenberger: Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere auch von den Auswirkungen eines "diffusen Gefühls des Überwachtseins" durch die Vorratsdatenspeicherung gewarnt. Und genau das leistet die Vorratsdatenspeicherung, egal ob 6 Monate, 3 Monate oder 2,5 Monate. Wer ohne Anlass auf Vorrat überwacht, überschreitet immer eine rote Linie.

Ist die nicht ganz unumstrittene Studie vom Freiburger Max-Planck-Institut, wonach die Vorratsdatenspeicherung bei der Aufklärung von Straftaten nicht wirklich hilft, nach wie vor als Referenzwerk zu bezeichnen oder hat sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand inzwischen geändert?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wieso umstritten – es gibt keine Studie, die einen eindeutigen Mehrwert der Vorratsdatenspeicherung bei der Verbrechensbekämpfung belegt. Wir sollten uns von dem Mythos verabschieden, dass immer mehr Überwachung automatisch immer mehr Sicherheit bringt.

Google und Facebook wissen oft mehr als die Polizei (erlaubt), heißt es bei Ermittlern. Verändert sich das Verständnis von Datenschutz im privaten Bereich und was könnte dies für den Staat heißen?

Leutheusser-Schnarrenberger: Sie können sich als Nutzer aussuchen, ob und welche Dienste Sie nutzen, die eben nicht mit ihren Daten Handel betreiben. Es gibt Alternativen zu Google und Facebook. Außerdem muss die EU eigentlich den Datenschutz auf ein neues Niveau heben, gerade mit Blick auf die US-amerikanischen Angebote. Wir Europäer müssen Diensten wie Facebook und Google endlich Grenzen setzen, damit deren schwunghafter Datenhandel herzhaft begrenzt wird. Ich halte nichts von einer politischen Kapitulation, nach dem Motto: Ist doch egal, ob mich der Staat oder Unternehmen "tracken".

Hegen Sie noch Hoffnung auf eine bürgerfreundliche Lösung bei der EU-Datenschutzverordnung? Die Verhandlungen ziehen sich seit Jahren hin und der EU-Rat hat sich jetzt vom Prinzip Datensparsamkeit verabschiedet und will die Verarbeitung persönlicher Daten für zahlreiche staatliche und private Zwecke für "legitim" erklären.

Leutheusser-Schnarrenberger: Letzteres halte ich für den falschen Weg. An der Zweckbestimmung der Datenverwendung muss festgehalten werden. Der Lobbydruck darf sich nicht einseitig nur zu Gunsten der Wirtschaft auswirken.

Welche Sprengkraft könnte der neue BND-NSA-Skandal noch entfalten? War das Ausmaß zu ihrer Zeit auf der Regierungsbank nirgends absehbar? Gibt es überhaupt durchsetzbare Ansätze zum Einhegen der massiven Überwachung durch Geheimdienste?

Leutheusser-Schnarrenberger: Nach den Enthüllungen von Edward Snowden hat das Bundeskanzleramt scheinbar kaum etwas praktisch-politisch unternommen, um der Horrorvorstellung einer global überwachten Welt etwas entgegenzusetzen. Und jetzt steht der Vorwurf der Kumpanei von BND und NSA im Raum. Deswegen muss die Bundesregierung endlich einen Sonderermittler einsetzen, der schonungslos aufklärt und die Vorwürfe klärt. Und das Parlament ist in der Kontrolle der Nachrichtendienste derart unbedeutend geworden, dass es mich als Demokratin schmerzt. Trotzdem: Geheimdienste können auf den Boden der Gesetze zurückgeholt werden. Dazu braucht es Öffentlichkeit und Kontrolle – und vor allem mutige Politikerinnen und Politiker. Ich verstehe nicht, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel in der BND-Affäre nur abwiegelt und auf Zeit spielt, statt selbst offensiv aufzuklären und aufzuräumen. Eine Regierungschefin trägt nun mal die politische Verantwortung. (axk)