Ein dickes Ding

In Deutschland gibt es europaweit die meisten Übergewichtigen, meldet eine neue Rangliste. Doch die Zahlen sind wenig aussagekräftig.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Jetzt haben wir es amtlich: Blickten wir bislang kopfschüttelnd auf die übergewichtigen US-Amerikaner, so müssen wir uns nun auch an die eigene Hüfte fassen. Vergangene Woche wurde im Vorfeld des gerade in Budapest stattfindenden Europäischen Übergewichtskongresses eine Rangliste der International Association for the Study of Obesity (IASO – Internationaler Verband zur Erforschung der Fettleibigkeit) bekannt, die den Deutschen beiderlei Geschlechts den ersten Platz unter den Übergewichtigen und Fettleibigen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union attestiert. Laut der Liste liegen wir gemessen am Body-Mass-Index (BMI), der bei Übergewichtigen per Definition über einem Wert von 25, liegt knapp vor England, Tschechien und Zypern. Die Süddeutsche Zeitung, die die Zahlen als erste rausposaunte, sieht uns damit fast gleichauf mit den US-Amerikanern.

Dumm nur, dass sich alle auf die vermeintliche Neuigkeit stürzten, ohne sich offenbar vorher die Zahlen genauer anzusehen – oder weil man nicht die einzige Zeitung sein wollte, die es nicht gebracht hatte. Die Rangliste ist ein zusammen gewürfeltes Zahlenkonglomerat, denn die zugrunde liegenden Umfragen der einzelnen Länder sind kaum aktuell und nicht nur deshalb wenig aussagekräftig. Die neuesten Zahlen stammen von 2006, die ältesten von 1992 – die deutschen Zahlen wurden 2003 erhoben. Die IASO hat zwar noch darunter geschrieben, dass nur wenig aktuelle Zahlen zugänglich gewesen und die Zahlen nicht auf Altersgruppen bezogen standardisiert seien. Doch eigentlich hätte sie diese Liste so gar nicht veröffentlichen dürfen.

Der BMI wiederum ist auch wenig aussagekräftig, denn er sagt wenig über den tatsächlichen Körperfettanteil aus. Er berechnet sich aus dem Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. Unter Experten gilt er jedoch nur als grober Richtwert und ist zudem umstritten, weil er Faktoren wie die Statur und die individuell verschiedene Zusammensetzung des Körpergewichts aus Fett- und Muskelgewebe nicht mit einbezieht.

Die Zahlen verursachten dennoch ein ordentliches Rauschen im Blätterwald, als die anderen Tageszeitungen und Online-Dienste der Süddeutschen folgten. Auch die Politiker überboten sich mit guten Ratschlägen, wie der Misere zu begegnen sei, anstatt aktuelle und aussagekräftige Zahlen einzufordern. Praktischerweise arbeitet das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) nämlich gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium gerade an einem Eckpunktepapier zur Förderung von ausgewogener Ernährung und mehr Bewegung, das am 10. Mai vorgestellt wird.

Es geht nicht darum, die Zahlen zu verharmlosen -– im Gegenteil, die waren zum Teil schon 1992 bedenklich. Aber wie wichtig exaktes wissenschaftliches Material ist, zeigt auch das folgende ernüchternde Ergebnis: Vor vier Jahren prüfte die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO einen Großteil der wissenschaftlichen Ernährungsstudien – von denen es fast wöchentlich eine neue gibt und die zudem oft genug den bisherigen Ergebnissen widersprechen. Insgesamt ließen sich nur wenige Ernährungsweisheiten belegen, außer dass viel Obst, wenig Salz sowie ungesättigte Fettsäuren Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen, Kalium und Vitamin D gegen Osteoporose wirksam sind – und dass viel Bewegung diese Krankheiten sowie Diabetes und Krebs verhindern helfen. Offenbar lassen sich ohne eine einheitliche, systematische Datenerfassung keine Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krankheiten herstellen. Eine solche Datenerfassung erwartet man aber besonders von einer internationalen Fachorganisation wie der IASO.

Klare Zahlen muss aber auch die Lebensmittelindustrie auf den Tisch legen und endlich ehrliche Angaben über den Gehalt von Fetten, Kohlehydraten und Eiweißen auf die Verpackungen drucken. Derzeit lassen die reinen Gewichtsangaben die Verbraucher in dem Glauben, dass etwa die Nuss-Nougat-Creme eines bekannten Herstellers weniger Fette als Kohlehydrate enthalte (30 und 54 Gramm pro 100 Gramm). Rechnet man das mit Hilfe der sogenannten 4-4-7-9-Regel in Kilokalorien um, so resultieren aus der Zuckermenge 216, aus dem Fett aber 270 Kilokalorien. Die Regel besagt nichts anderes, als dass die Verbrennung von einem Gramm Kohlehydraten im Körper mit vier Kilokalorien zu Buche schlägt, ein Gramm Eiweiß ebenfalls mit vier, ein Gramm Alkohol mit sieben und ein Gramm Fett mit neun. Es gibt also mehr als genug Futter zum Nachdenken. (wst)