Verriss des Monats: Das Auge fliegt mit

Man möchte gern sehen, was vor sich geht. Um die Kontrolle behalten zu können. Um die Lust am Sehen zu befriedigen. Um notfalls Maßnahmen einleiten zu können. Man braucht nur ein Auge draufzu werfen. Mit der Wurfkamera TosPom geht das jetzt explizit.

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Von
  • Peter Glaser

Man möchte gern sehen, was vor sich geht. Um die Kontrolle behalten zu können. Um die Lust am Sehen zu befriedigen. Um notfalls Maßnahmen einleiten zu können. Man braucht nur ein Auge draufzu werfen. Mit der Wurfkamera TosPom geht das jetzt explizit.

Im Dezember 1992 definierte die geheime Direktive TS-3600.1 des US-Verteidigungsministeriums den Krieg im Informationszeitalter erstmals als eine “militärische Strategie, die sich der Informationskriegführung auf dem Schlachtfeld bedient". Kriegführung im digitalen Zeitalter reicht vom Auslösen periodischer Systemabstürze über Datenfehler, Informationsdiebstahl, verdeckte Systemauswertung, das Einfügen falscher Nachrichten bis hin zur totalen Paralysierung eines Systems. Und längst sind nicht mehr nur Soldaten von immer mehr digitalem Rüstwerk gegen die zeitgenössische Bedrohungsüberflutung umgeben. Von kugelsicherer Damenoberbekleidung bis zu antiterroristischen Mülleimern reicht der rasch anwachsende zivile Sicherheitswarenbestand inzwischen.

In einer auf eng vernetzte Metropolen zugeschnittenen Horrorvision können digital gesonnene Attentäter beispielsweise die Aufzüge in einem Büroturm lahmlegen, die Belüftung stoppen und die Heizung in den roten Bereich fahren – die in den Fahrstühlen eingeschlossenen Angestellten würden braten wie in einem Backofen. Dem treten Entwürfe von Sicherheitsarchitekturen entgegen, etwa Gebäude, die in der Lage sein sollen, Probleme – vom Amoklauf bis zum Massenaufstand – selbständig zu lösen. Sie sollen Unruhestifter in Aufzügen oder Fluren einschließen können, Brände löschen, anrückenden Einsatzkräften ein genaues Bild der Ereignisse vermitteln und gegebenenfalls Nebel oder Beruhigungsmittel verbreiten. Im Vorfeld solcher drakonischen Maßnahmen steht immer der Versuch, die Übersicht und damit die Kontrolle zu behalten.

Schon bei den alten Ägyptern war das Auge das wichtigste Organ des Sonnengottes Re. Es besaß eine unabhängige Existenz und spielte eine kreative und direktive Rolle in allen kosmischen und menschlichen Vorgängen. Die digitale Technologie erweist sich nun als das Auge des wiedererstandenen Sonnengottes – das Argusauge, das allgegenwärtige, vollziehende Auge, das absolute Unterordnung unter seine Befehle fordert, da ihm kein Geheimnis verborgen bleibt und kein Ungehorsam der Bestrafung entgeht. Die Vorstellung des alles sehenden Auges begleitet die Geschichte der Macht durch die Jahrtausende. So hieß es etwa von Alexander dem Großen, er habe einen "Weltenspiegel" besessen, "worin er mit einem Blicke alle Geheimnisse und Pläne seiner Feinde durchschaute".

Wir leben heute in einer Zeit, in der die großen Dinge klein werden und das Spielzeug der Mächtigen eine eigenartige Form von Demokratisierung erfährt. Wer hätte gedacht, dass vormals vom Militär gehütete Satellitenbilder wie sie Google Earth liefert, einmal als Routenplaner für Radwanderungen jedem zur Verfügung stehen würden? Immer weitere Wunderlichkeiten kommen aus dem Grenzgebiet militärischer Produktphantasie im Wahrnehmungsbereich staunender Zivilisten an.

Genau zu wissen, wo sich der Gegner verschanzt hat, bedeutet einen unstrittigen Vorteil. Militärs in verschiedenen Länder lassen deshalb verschiedene neue Methoden zur Aufklärung entwickeln, etwa Flugdrohnen, die das Schlachtfeld von oben überwachen oder handlich Aufklärungssysteme für Gebäude. Das britische Unternehmen Dreampact hat ein System namens iBall zu bieten, das es Soldaten erlaubt, Gebäude oder Schlachtfelder zu erkunden. Es besteht aus einer Kugel mit zwei Kameras, die Bilder an einen Computer funken. Der Computer wandelt die beim Rollen oder im Flug aufgenommenen Bilder in stabile Bilder um. Auch die kleine, feine Schweizer Rüstungsschmiede Macroswiss S.A. hat eine Wurfkamera für kurze Distanzen im Angebot, die für den Häuserkampf in Stadtgebieten konzipiert ist (hier eine animierte Demo). Man wirft sie durch ein Fenster oder in einen Terroristen-Schlupfwinkel und kann sich einen Überblick verschaffen, ohne seine Leute zu gefährden.

Das Zivilwurfauge TosPom (hier ein Demo-Clip) bringt nicht nur die Möglichkeiten des schonenden Straßenkampfs in den Privathaushalt. Bisher hatten vorwiegend Prominente das Problem, dass Paparazzi sie drangsalieren und im Gedränge auch schon mal Fotoapparate fliegen. Auch dieser schöne Zeitvertreib sieht nun mit Hilfe der Schleuderkamera seiner Demokratisierung entgegen. Was passiert, wenn die kugelförmige Kamera mal nicht aufgefangen wird, sondern auf den Boden fällt, also ob sie kriegerisch weiterfunktioniert oder sich zivil in ihre Bestandteile zerlegt, war nicht zu erfahren.

Was sich andeutet, ist das künstlerische Potential der TosPom – und damit ist nicht nur die Lust gemeint, so manches Kunstwerk weit fort zu schleudern, der man mit der Wurfkamera wonnig nachgeben kann. Auf Flickr finden sich bereits zahlreiche Fotos, die mit geworfenen Kameras aufgenommen worden sind. Mit etwas Ton zum Bild in einer nächsten Version der TosPom ließe sich noch weitere Kunst schmeißen: Der österreichische Rundfunk hat bereits Wurfgedichte im Programm. (wst)