Glas

Einige Menschen kennen im wahrsten Sinne des Wortes keinerlei Mitgefühl. Ein neues Medikament soll ihnen helfen. Doch es zeigt unerwartete Nebenwirkungen.

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Daryl Gregory
Inhaltsverzeichnis

Lesefutter für stille Tage: Zur Weihnachtspause präsentieren wir Ihnen ausnahmsweise mal reine Fiktion: Zwei Science Fiction-Kurzgeschichten vom Feinsten. Nach den Feiertagen versorgen wir Sie dann wieder mit Nachrichten, Hintergründen und Analysen.

"Es ist eine von den Heulsusen", sagte die Wache. "Er versucht grade einen der Psychos zu töten". Dr. Alycia Lidell fluchte leise und griff nach ihren Schlüsseln. Gerade mal zwei Wochen liefen die Tests jetzt. Die Probanden veränderten sich viel zu schnell. Und einige hielten dieser Belastung offenbar nicht stand.

Im Flur der Klinik drängten sich ein Dutzend bewaffnete Wachen um eine offene Zellentür. Sie waren gerade dabei, ihre Schutzausrüstung anzulegen: Polster, Schienbeinschoner, Helme wurden angelegt – Gummiknüppel lässig in die Handinnenfläche geklatscht. Es war üblich, dieses Ritual vor den Augen der Insassen zu vollführen – in vielen Fällen entschieden sie sich dann, freiwillig herauszukommen. Der diensthabende Offizier, ein junger Leutnant, winkte sie heran: "Einer ihrer Jungs will mit Ihnen reden".

Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und schaute vorsichtig um die Ecke: In der hintersten Ecke der Zelle, eingeklemmt zwischen der Toilette und der Zellenwand, saßen zwei Männer auf dem Boden. Eng hintereinander, wie Bobpiloten. Lyle Carpenter war der hintere der beiden; seine dünnen Arme umklammerten den ausladenden Brustkorb von Franz Lutdwig. Lyle war blass und schwitzte. In seiner rechten Hand hielt er einen Schraubenzieher; die scharfe Spitze zitterte nur wenige Zentimeter vor Lutdwigs fettem Doppelkinn in der Luft. Die Augen von Franz waren weit geöffnet, aber er wirkte eigentümlich schläfrig – beinahe gelangweilt. Vorn auf seiner Anstaltskleidung zeichneten sich dunkle Flecken ab.

Beide Männer sahen sie. Franz lächelte und zuckte kaum merklich mit den Schultern, als wolle er sagen: Nun sehen Sie sich diesen Schlamassel an. Lyle dagegen ließ vor Schreck beinahe den Schraubenzieher fallen: "Doktor, Gott sei Dank, dass Sie endlich da sind!". Er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Alycia trat zurück und drehte sich zur Wache: "Franz blutet", sagte sie. "Lyle hat ihn in die Brust gestochen. Es sieht so aus, als ob die Blutung aufgehört hat. Aber falls er innere Verletzungen hat, können wir auf keinen Fall auf das Verhandlungsteam warten. Ich könnte versuchen, Lyle dazu zu bringen, die Waffe fallen zu lassen." Der Wächter nickte knapp: "Ich gebe Ihnen drei Minuten."

Sie sollte Polster und Helm anlegen, aber sie weigerte sich: Lyle und Franz waren, genau wie die anderen 14 Teilnehmer des Versuches, keine gefährlichen Schwerverbrecher. Es waren eher Kleinkriminelle: Betrüger, Diebe – keine Gewalttäter. Wäre das anders, hätte die Kontrollkommission das Experiment auch gar nicht genehmigt. Trotzdem war es ihr gelungen, Männer mit einem hohen psychopathischen Index zu finden; eine veritable Sammlung verschiedenster Ausprägungen von Soziopathen, wie manche ihrer Kollegen diese Fälle zu nennen pflegten.

Der Leutnant ließ sie drei Schritte in die Zelle hinein. "Das reicht!", sagte er. Lyles sah ihr direkt in die Augen. Sie lächelte kurz, dann setzte sie einen besorgten Gesichtsausdruck auf: "Warum sagst Du mir nicht, was los ist, Lyle?", fragte sie. "Wahrscheinlich weiß er das nicht einmal selbst", entgegnete Franz. "Halt's Maul!", rief Lyle – die Spitze des Schraubenziehers zitterte vor Lutdwigs Kehle. "Beachte ihn nicht", sagte Alycia zu Lyle. "Konzentriere Dich nur auf mich. Wenn Du die Waffe runternimmst, können wir uns in Ruhe darüber unterhalten, was Dich so aufregt."

"Ich hab's versaut, Doktor Lydell. Ich wollte ihn aufhalten, aber ich konnte es nicht", stammelte Lyle. "Nenn mich Alycia, Lyle". "Alycia?" Lyle war überrascht – und gerührt. Sie hatte noch keinem der Gefangenen erlaubt, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Franz schnaubte spöttisch, aber Lyle schien ihn nicht zu hören. "Ich hab es nur für Dich getan, Alycia", erklärte Lyle. "Eigentlich wollte ich mich selbst töten. Aber dann hat mir dieses Schwein hier erzählt, was er alles getan hat. Da habe ich gewusst, ich muss ihn zuerst töten." Er umklammerte den Schraubenzieher noch fester. "Ich hab ihm das Ding hier genau ins Herz stoßen wollen. Aber dann ist er aufgesprungen. Und ich habe nicht getroffen. Ich wusste, ich muss noch mal zustechen. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich einfach nicht bewegen. Es war so, als würde ich auf mich selbst einstechen. Was zur Hölle passiert mit mir?"

Genau das versuchen wir gerade herauszufinden, dachte Alycia. GLS-71 war ein Zufallsprodukt – ein Medikament, das eigentlich zur Behandlung der Folgen von Schlaganfällen entwickelt worden war – aber nicht wirklich funktioniert hatte. Stattdessen schien es die so genannten Spiegelneuronen zu erhöhten Aktivitäten anzuregen. Sie feuerten rund tausendmal mehr als ohne Medikament.

Spiegelneuronen sind hochspezialisierte Hirnzellen: Wenn man sieht, wie jemand ins Gesicht geschlagen wird, aktiviert das Hirnareale, die auch aktiviert würden, wenn man selbst geschlagen würde. Wenn man sieht, wie jemand getreten wird, verhält sich das Gehirn, als würde man selbst angegriffen. Allein die Vorstellung oder die Erinnerung daran löst eine Kaskade von neuronalen und hormonellen Reaktionen aus. Und die Spiegelneuronen sind diejenigen, die diese Kette auslösen: Der physiologische Sitz von Mitleid und Einfühlungsvermögen – die Stolperdrähte der Empathie. Jedenfalls normalerweise. Bei ihren Versuchspersonen funktionierten die Spiegelneuronen nicht.