Die unsichtbare Hand der Wikipedia

Forscher wollen die Abläufe bei dem populären Online-Lexikon genauer herausarbeiten, damit sich Nutzer ein besseres Bild von seiner Verlässlichkeit machen können.

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Von
  • Erica Naone

Trotz aller Warnungen von Lehrern und Professoren vor möglicherweise fehlerhafter Informationen bleibt das Online-Lexikon Wikipedia eine der am häufigsten besuchten Seiten im Netz – die größte Enzyklopädie, die die Menschheit je geschaffen hat, ist es sowieso. Doch trotz dieser wachsenden Popularität bleibt die Debatte über die Vertrauenswürdigkeit als Quelle. Eine der Bedenken, die man immer wieder hört, ist die Tatsache, dass die Artikel von einer scheinbar anonymen Armee aus Menschen mit unbekannten Interessen und Tendenzen geschrieben und redigiert werden.

Ed Chi, leitender Wissenschaftler für den Bereich "Augmented Social Cognition" am Palo Alto Research Center (PARC) und seine Kollegen haben deshalb nun ein Werkzeug erstellt, das viele der normalerweise versteckten Hintergrundgefechte aufdeckt, die bei den am heißesten diskutierten Seiten des Online-Lexikons vorkommen. Das so genannte WikiDashboard soll den Lesern die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, für wie vertrauenswürdig sie die Wikipedia-Inhalte halten.

Das Online-Lexikon besitzt bereits jetzt Werkzeuge, um seine Leser darauf aufmerksam zu machen, dass ein Eintrag potenziell problematisch sein könnte. Beispielsweise können die freiwilligen Redakteure einen Artikel begutachten und ihn mit der Kennzeichnung "Umstritten" markieren oder hinzufügen, dass noch Quellen fehlen. In der Praxis erhalten laut Chi allerdings nur wenige Artikel diese Markierungen. WikiDashboard bietet stattdessen einen Schnappschuss der Veränderungen einer Seite an und bildet die Meinungen und Gegenmeinungen ab, aus denen die vielen Millionen Wikipedia-Seiten entstehen.

Die Forscher begannen dabei mit der Untersuchung von Artikeln, die bereits als umstritten markiert waren. Sie fanden heraus, dass diese Seiten besonders häufig verändert wurden. Auf Basis dieser Beobachtung entwickelten sie WikiDashBoard als Website, die Wikipedia-Artikel anzeigt, die um eine Zusatzfunktion ergänzt werden: Eine Tabelle, die darstellt, wann die letzten Veränderungen vorgenommen wurden und die ganz oben auf jeder Seite zu finden ist.

WikiDashboard zeigt außerdem, welcher Nutzer die meisten Veränderungen beigetragen hat, für wie viel Prozent des Inhalts des Artikels er oder sie verantwortlich ist und welche Redakteure insgesamt die aktivsten waren. Ein WikiDashboard-Nutzer kann sich noch tiefer in das Datengewirr stürzen, indem er auf einen Namen klickt – dann erscheint unter anderem, wie stark ein Redakteur an anderen Artikeln beteiligt war. Das Hauptziel von Chi und seinen Kollegen: Die sozialen Interaktionen aufzudecken, die bei der Gestaltung eines Artikels ablaufen. Beispielsweise zeigt die Tabelle, wenn ein einzelner Nutzer eine Seite dominiert hat oder wenn ein umstrittener Artikel besonders häufig verändert wurde. Die Zeitleiste, die die Tabelle enthält, kann außerdem darlegen, ob und wie lange eine Seite vernachlässigt wurde.

Die Seite für Hillary Clinton zeigt beispielsweise, dass der Hauptautor rund 20 Prozent aller Veränderungen vornahm. Chi sagt, dass dies nahe lege, dass diese Person wichtige Teile des Artikels federführend bestimmte. Ein Eintrag zum Thema Windbrand ist hingegen wesentlich weniger umstritten: Hier ist die Verteilung der Autoren gleichmäßiger.

Chi und seine Kollegen veröffentlichten eine frühe Version ihres Werkzeuges bereits 2007 und setzten dabei auf Daten, die Wikipedia selbst mehrmals im Jahr veröffentlichte. Dieses WikiDashboard 1.0 sei aber sehr eingeschränkt gewesen, weil es mit der Geschwindigkeit der Veränderungen auf der Seite nicht mehr mithalten konnte. Chis Team verbrachte deshalb einen Großteil des Jahres 2008 damit, an Echtzeitdaten zu gelangen. Das sei recht schwierig gewesen, weil es der Wikipedia an entsprechenden Ressourcen fehle.

Daniel Tunkelang, Chefwissenschaftler beim Informationsanalysespezialisten Endeca, sieht in WikiDashboard die Chance, die sozialen Hintergründe von Wikipedia-Artikeln aufzudecken. "Allerdings könnten die Daten noch komprimierter sein, damit sie sich leichter konsumieren lassen." Ergo: Zusammenfassungen könnten Gelegenheitsnutzern helfen, die WikiDashboard-Informationen besser zu verdauen. Beispielsweise ließe sich die lange Liste der Artikel, an denen jeder Autor gearbeitet hat, besser als leicht lesbare Tags darstellen, wie Tunkelang glaubt.

Bei einem Vortrag von Chi meldete sich kürzlich Rob Miller zu Wort, Dozent am Labor für Computerwissenschaften und Künstliche Intelligenz des MIT. Er meinte, einige Wikipedia-Redakteure versuchten, besonders viele Artikelveränderungen vorzunehmen, um sich in der Community nach vorne zu arbeiten. Er frage sich, in wie fern diese Tendenz WikiDashboard beeinflussen werde, sollte sich das Werkzeug bald stärker durchsetzen.

Chis Gruppe arbeitet deshalb weiter an dem Tool und analysiert die Wikipedia-Daten auch mit anderen Methoden. So würde der Forscher gerne ein System erstellen, dass nicht nur simple statistische Zahlen wie die Anzahl der vorgenommenen Veränderungen nennt, sondern auch die Qualität dieser Beiträge. (bsc)