Kommentar: Mit Vorsicht zu konsultieren

Der Freispruch kam zur rechten Zeit, und die Richterin könnte kaum angesehener sein: Das Wissenschafts-Journal Nature erteilt der Online-Enzyklopädie Wikipedia einen Ritterschlag.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 2 Min.
Von
  • Tobias Hürter

Der Freispruch kam zur rechten Zeit, und die Richterin könnte kaum angesehener sein: Die englische Zeitschrift "Nature", in der jeder Forscher gerne publizieren würde, wurde diesmal selbst wissenschaftlich tätig und prüfte die Qualität der offenen Online-Enzyklopädie Wikipedia. Mit positivem Urteil: Die Wikipedia sei "kaum weniger korrekt" als der Maßstab aller Enzyklopädien, die Encyclopedia Britannica.

Hunderttausende Wikipedianer weltweit werden aufatmen, denn gerade war das einstige Paradeprojekt der Open-Content-Bewegung dabei, in Verruf zu geraten. "Mehr als Wahrheit" sei in der Wikipedia zu lesen, schrieb die New York Times und breitete den Fall des Journalisten und Politikberaters John Seigenthaler aus, dem in seinem Wikipedia-Eintrag von einem anynomen Autoren grundlos unterstellt, "direkt beteiligt" an den Kennedy-Morden gewesen zu sein. Wikipedia-Urvater Jimmy Wales nannte die Einträge zu Bill Gates und Jane Fonda eine "entsetzliche Blamage" und "unerträglichen Mist", worauf die "Süddeutsche Zeitung" die Wikipedia schon "entzaubert" sah.

Und jetzt soll dank "Nature" alles wieder gut sein? Einzelne Ausrutscher also nur, verzeihlich angesichts der gigantischen Ausmaße, die das Mitmach-Lexikon inzwischen erreicht hat? Nein. Die Nature-Redakteure haben Wikipedia und Britannica anhand der bloßen Fehlerquoten verglichen, aber die Art der Fehler unberücksichtigt gelassen. Der Fall Seigenthaler lässt den Verdacht aufkommen, dass hinter den Falschheiten in der Wikipedia oft gezieltes Fälschungsinteresse steckt – und das kann tückischer sein als eine aus Unachtsamkeit verkehrt gesetzte Jahreszahl. So wurde Anfang Dezember bekannt, das der Podcaster Adam Curry einfach die Einträge seiner Konkurrenten gelöscht hat. Von dem "neutralen Standpunkt", den die Wikipedianer mit ihrer radikalen Offenheit erreichen wollen, ist diese Realität weit entfernt.

Die Administratoren der Wikipedia versuchen natürlich, gegenzusteuern, sie starten "Qualitätsoffensiven" zu bestimmten Themen und geben die Einträge zur Begutachtung an Fachleute. "Nature" fordert die Wissenschaftler-Gemeinschaft auf, sich aktiv an der Online-Enzyklopädie zu beteiligen. So könnte zwar das Niveau steigen, andererseits wächst mit der Bedeutung der Wikipedia auch die Verlockung, sie ideologisch zu missbrauchen. Deshalb ist die Aufklärung der Benutzer wichtiger als jede Qualitätsoffensive. Sie müssen verstehen, dass sie in der Wikipedia nicht unbedingt mehr Fehler als in Brockhaus und Britannica zu erwarten haben, aber andere. Die Wikipedia ist eine großartige Informationsquelle, wenn sie mit Vorsicht konsultiert wird.

Von Tobias Hürter (wst)