Zocken für den Fortschritt

Grafikkarten, die Superrechner antreiben, Brillen, die virtuelle Realitäten zeigen, Geräte, die Gesten verstehen: Ohne die Spielebranche wäre die Computertechnologie nicht so weit wie heute. Was kommt als Nächstes?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1 Kommentar lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Claudia Wessling

Grafikkarten, die Superrechner antreiben, Brillen, die virtuelle Realitäten zeigen, Geräte, die Gesten verstehen: Ohne die Spielebranche wäre die Computertechnologie nicht so weit wie heute. Was kommt als Nächstes?

Es wäre einfach, das „Meltdown Café“ als Ort für Computerspiel-Nerds zu beschreiben, denen der Auszug aus dem heimischen Kinderzimmer nicht gelingt: Die Besucher, keiner davon älter als 30, schlürfen an Cocktails mit Namen wie „Pony Level“ oder „Cloud Kingdom“. Manche schauen auf die rundum an den Wänden hängenden Bildschirme, auf denen gerade ein internationales Turnier des Kultspiels „League of Legends“ übertragen wird. Aber eigentlich steht das Meltdown-Café, eine E-Sports-Bar in Berlin-Kreuzberg, für das genaue Gegenteil: Es zeigt, dass Computerspielen längst mehr ist als ein Privatvergnügen. An einem heißen Freitagabend sitzen mehrere junge Männer mit Vollbärten und eine tätowierte Frau in schnittigen Lederstühlen hinter ihren Spielecomputern. Sie geben einen kleinen Hinweis darauf, was Gaming heute ist: ein Event wie der Rockmusik-Zirkus mit einer Szene, deren Einfluss weit über die eigentliche Spielebranche hinausgeht.

Die E-Sports-Szene füllt mit ihren Wettbewerben längst die ganz großen Hallen: Die 20000 Stadionplätze im New Yorker Madison Square Garden waren beim Meisterschaftsfinale der League of Legends im August ausverkauft. Bei „LoL“, wie die Fans sagen, treten die Teams mit publikumswirksamen Konfrontationen gegeneinander an, gefragt sind komplexe Angriffsstrategien. „Auch wenn man eigentlich nur Pixel anschaut, die sich auf dem Bildschirm bewegen, bringen die Spieler Höchstleistungen, die mit denen von Profisportlern vergleichbar sind“, sagt Laurin Bürmann, der bei Donkey Gaming Live-Events organisiert (siehe Seite 80).

Und da die Szene Millionen von Menschen und Milliarden von Euro bewegt, hat sie auch immer wieder die Entwicklung neuer Computertechnologien befruchtet. An kaum einem Ort wird das so deutlich wie im Berliner Computerspielemuseum. „Wall of Hardware“ nennt Museumsdirektor Andreas Lange die Versammlung der Uralt-Spiele, die mit der Teletennis-Maschine Magnavox aus dem Jahr 1972 beginnt und mit der ersten Microsoft Xbox von 2001 endet. Die beeindruckende Kollektion hat Lange von privaten Spendern und auf Flohmärkten zusammengetragen. Sie zeigt, wie eng in den vergangenen Jahrzehnten technischer Fortschritt und kreative Spieleentwicklung verknüpft waren.

Ohne „Pong“ – in Deutschland als „Teletennis“ bekannt – wären Computerchips vielleicht nie in die Massenproduktion gegangen. In den siebziger Jahren war dieses erste Videospiel ein Renner: Von einer Konsole aus steuern die Spieler auf dem Bildschirm zwei senkrechte Striche als Schläger und spielen sich gegenseitig einen Punkt als Ball zu. Wer ihn verfehlt, verliert. „Der Pong-Chip war 1976/77 der erste Großauftrag für die Mikrochip-Industrie, der dann in Hunderten Konsolentypen tickte“, erzählt Lange. Bis dahin waren solche Chips noch sehr teuer – und deshalb dem militärischen und wissenschaftlichen Bereich vorbehalten.

„Spieleentwickler waren einfach immer sehr gut darin, Computertechnik zu identifizieren, die massenhaft verwertbar ist“, sagt Lange. Selbst externe Hardware wie die Maus oder Medien wie CD-ROM oder DVD wären vermutlich nicht so groß rausgekommen, wenn nicht Hunderte Millionen Spieler zur Absatzsteigerung beigetragen hätten. Auch die Gestensteuerung, die Hersteller für Handys und Büroanwendungen entwickeln, stammt aus der Gamerwelt: nämlich von der Kinect-Schnittstelle, die Microsoft 2010 für die Spielkonsole Xbox 360 auf den Markt brachte. Mithilfe eines Tiefensensors, eines 3D-Mikrofons und einer Kamera agiert der Spieler nur noch mit Bewegungen und Stimme. Innerhalb weniger Wochen wurden Hacks entwickelt, damit Kinect auch für andere Geräte funktioniert, zum Beispiel in 3D-Scannern oder zum Steuern von Robotern.

Die Gamer sind so etwas wie die Pioniere in der Computerwelt. Sie nutzten die Cloud zum Spielen, als viele andere diese noch für ein Wetterphänomen hielten. Sie experimentieren mit Gestensteuerung und Virtual-Reality-Brille. Sie testen neue Technologien früher als andere, ebnen Entwicklungen den Weg in den Massenmarkt. Experten sehen sogar eine Rolle bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 68 - Trendsetter: Gamer als Pioniere in der Computerwelt

Seite 74 - Therapie: Spiele als Hilfe bei Depressionen, Schmerz und Krebs

Seite 76 - Künstliche Intelligenz: Spielfiguren entwickeln immer mehr Fähigkeiten

Seite 78 - E-Sport: Profis machen ihre Leidenschaft zum Beruf

(vsz)