Klassenziel verfehlt

Beim Niedergang des Sprachenspezialisten Lernout&Hauspie haben die Analysten geschlafen. Aufstieg und Fall der belgischen Softwareschmiede sind ein Paradestück der Hightech-Branche und schon fast eine Verfilmung wert.

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Die Misere begann mit einem Artikel im Wall Street Journal. Darin äußerten Wirtschaftsjournalisten Zweifel an der von Lernout&Hauspie vorgelegten Bilanz des Asiengeschäfts. Grundlage der Bedenken dürften unter anderem die ungeheuren Steigerungsraten des hoch gelobten Kindes der Hightech-Branche gewesen sein: Für das erste Halbjahr 2000 hatte der belgische Softwareprimus einen Umsatz von 127 Millionen US-Dollar in Südkorea angegeben - im Jahr zuvor lagen die Erträge bei nur 1,2 Millionen. L&H-Korea habe sich zudem mit vermeintlichen Kunden geschmückt, die gar keine seien, so die WSJ-Spürnasen.

Zunächst wehrt sich das Unternehmen vehement gegen diese Vorwürfe - seit die Firma Bumil Information & Communications 1999 ins L&H-Boot geholt wurde, sei das Asiengeschäft ungeheuer erfolgreich verlaufen, erklärt Gaston Bastiaens, Präsident und CEO der Softwareschmiede, noch am 8. August. Der L&H-Aktie nützt das wenig, sie sackt sofort nach Erscheinen des Artikels um einige Prozentpunkte in den Keller.

Fünf Tage später ordnet der Sprachenspezialist notgedrungen eine Bilanzprüfung an. Mit dem Audit werden die Wirtschaftsprüfer von KPMG beauftragt - dieselbe Firma, die in den Jahren zuvor die L&H-Finanzen abgesegnet hat. Dann geht alles Schlag auf Schlag: Gaston Bastiaens tritt zwölf Tage nach Beginn der Untersuchung zurück; John Duerden, bisheriger Chef der Health Care Solutions Group, wird neuer Präsident und CEO. Duerden war bis zum März des Jahres Chef der Firma Dictaphone - eines von rund 20 Unternehmen, das die Belgier auf ihrer Einkaufstour der letzten fünf Jahre erwarben. Bastiaens bleibt weiterhin aktives Mitglied des Board of Directors.

Einen Monat später beginnen die US-Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission und die belgische Staatsanwaltschaft gegen L&H zu ermitteln. Bald wird klar, dass nicht nur in Asien geschummelt wurde: Am 9. November muss Lernout&Hauspie seine Bilanzen für 1998, 1999 und die erste Jahreshälfte 2000 revidieren und die Umsatzvorhersage für das dritte Quartal 2000 deutlich nach unten korrigieren.

Die L&H-Aktie ist inzwischen von ihrem Jahreshoch von 72,50 US-Dollar auf 3,50 US-Dollar gefallen. Die Aktienkurse werden vom Handel ausgesetzt. Firmengründer Jo Lernout tritt als Co-Chairman und Managing Director zurück, Mitbegründer Hauspie wird depressiv und hält sich von der Firma fern. Zwei Wochen später wirft Duerden den vormals hoch gelobten Präsidenten von L&H-Korea, Joo Chul Seo, raus. Er soll 30 Millionen Dollar veruntreut haben; der Verbleib weiterer 100 Millionen Dollar ist unklar. Auch Paul Hauspie, Gaston Bastiaens und Nico Waellert verlassen den Firmenvorstand - Duerden bleibt als alleiniger Direktor an Bord.

Vier Gläubigerbanken verlangen wenige Tage darauf Kredite über 400 Millionen US-Dollar zurück. Die Deutsche Bank, die Fortis Bank und die belgischen Banken KBC und Artesia glauben nicht mehr an die Bonität des Unternehmens; den vorgelegten Restrukturierungsplan erklären sie für unakzeptabel. Die Belgier beantragen daraufhin Schutz vor ihren Gläubigern nach Chapter 11 in den USA und nach entsprechenden Gesetzen in Belgien. Auch die beiden Unternehmenstöchter Dictaphone und die L&H Holdings USA beantragen den Schutz. Die Anträge werden abgelehnt. Firmensprecher Ron Schuermans deutet wenig später den Verkauf von Beteiligungen und Tochtergesellschaften an - womit sich der Kreis der L&H-Erfolgsstory schließt.

Der einstige Star am europäischen Hightech-Himmel hat seine strahlende Größe nicht nur aus eigener Kraft erreicht. Zahlreiche Firmeneinkäufe und Finanzspritzen von großen Unternehmen haben ihn ans Firmament katapultiert. So investierte Microsoft vor mehr als drei Jahren rund 45 Millionen US-Dollar in den belgischen Sprachenspezialisten und ist heute mit 6,5 Prozent an L&H beteiligt. Auch Intel setzte Hoffnungen in L&H: 30 Millionen Mark flossen vom Branchenprimus nach Belgien.

Seine Geschäftsbereiche erweiterte der Spezialist für Spracherkennung, Sprachausgabe, Übersetzung, Lokalisierungssoftware und Audio-Mining Jahr für Jahr durch Zukauf großer und kleiner Unternehmen. Mit Investitionen in Start-ups sicherten sich die Belgier zudem den Zugang zu neuen Techniken. Für seine Übersetzungssparte kaufte L&H 1998 beispielsweise den Übersetzungsspezialisten GlobalLink, auch die heutige Geschäftsführerin des Bereichs ‘Globalization und Internet Translation’, Florita Mendez, stellte ihre Firma unter das L&H-Dach.

Die Abteilung ‘Healthcare Solutions’ basiert auf dem Kauf der amerikanischen Dictaphone. Mit Dictaphone ergatterten die Belgier im März 2000 eine Firma, die in den USA quasi als Synonym für Diktiergeräte gilt und für Diktaterfassung in Krankenhäusern erste Wahl ist. Die Spracherkennungssparte sollte durch die Ende März erfolgte Übernahme des Konkurrenten Dragon Systems gestärkt werden. Schließlich dominierte Dragon mit seinem Diktiersystem NaturallySpeaking den amerikanischen Markt.

Ein überaus ehrgeiziges Ziel verfolgten die beiden Firmengründer Lernout und Hauspie mit einer Stiftung im belgischen Ieper. Gleich neben dem Stammsitz sollte das so genannte Flandern Language Valley entstehen: Ein Konglomerat aus Firmen, Universitätsinstituten und Forschungsabteilungen, die sich der Sprache, Linguistik und Artificial Intelligence verschrieben haben. An die Möglichkeit eines kleinen Silicon Valley in Europa glaubte man nicht nur in Belgien; Microsoft zahlte beispielsweise schon vor drei Jahren über 50 Millionen US-Dollar in den Stiftungsfond. Natürlich setzte auch die Kleinstadt Ieper auf ihren Lokalmatadoren: Die Bürger kauften Aktien, Hotels wurden gebaut, breite Straßen zum Stadtrand gezogen - die Börse war schließlich voll des Lobs über die belgische Softwareschmiede.

Nach all den hochfliegenden Plänen fragt man sich nun nicht nur in Ieper, warum die Analysten dieser Welt den Untergang von L&H nicht vorausgesehen haben. Wieso hat sich die Wall Street über Jahre hinweg durch unseriöse Bilanzen beeindrucken lassen - obwohl der unbedarfte Bürger doch längst gestaunt hat, wie eine kleine Firma andere Unternehmen mit einem höheren Jahresumsatz und deutlich größerem Mitarbeiterstamm so mir nichts dir nichts kaufen kann. Ob sich Lernout&Hauspie durch die Veräußerung von Unternehmensteilen retten kann, ist fraglich - zumal mit dem Verkauf aussichtsreicher Töchter nur wenig vom einstigen Branchenprimus übrig bleibt. Und auch wenn mit John Duerden ein seriöser Mann das Ruder hält, der Ruf des belgischen Sprachenspezialisten ist zweifellos ruiniert. (uk) (uk)