30 Jahre nach Tschernobyl: Das ganz normale Leben im Sperrgebiet

Bis heute leben tausende Menschen im Tschernobyl-Sperrgebiet und sind der Strahlung des Unglücksreaktors der AKW-Katastrophe ausgesetzt. Ihr ganz alltägliches Leben hat der Fotograf Heiko Roith für das Fotoprojekt Chernobyl30 dokumentiert.

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30 Jahre nach Tschernobyl: Das ganz normale Leben im Sperrgebiet

(Bild: Heiko Roith)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Sascha Steinhoff

Für sein Projekt Chernobyl30 ist Heiko Roith mehrere Male in das Sperrgebiet um den Unglücksreaktor von Tschernobyl gereist. Mit seinen Bildern hat er nicht nur die sichtbaren Folgen der nuklearen Katastrophe sondern auch das ganz normale Leben der Menschen in Tschernobyl, Prypjat und Slawutysch dokumentiert. Der Super-GAU beeinflusst auch 30 Jahre später noch in vielfältiger Weise das Leben der ukrainischen Bevölkerung. c't Fotografie hat ihn zu seinem Projekt befragt:

Das Sperrgebiet in Tschernobyl ist nicht die naheliegendste Location für einen Konzertfotografen aus München. Was war ihre Motivation, gleich mehrfach in die Ukraine zu reisen?

Heiko Roith: Die ursprüngliche Motivation war der Gedanke, etwas zu entdecken, was aus dem Bewußtsein der Menschen weitgehend verschwunden ist. Vor 30 Jahren sprach die ganze Welt vom Super- Gau und alle fühlten sich betroffen. Die Katastrophe von Fukujima vor 5 Jahren ist schon viel schneller wieder aus dem Bewusstsein der Meisten verschwunden. Dabei ist die Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl immer noch in Kraft. Die Katastrophe ist nicht überstanden, sie ist nur erschreckend normal geworden. Ich wollte wissen, wie die die Menschen 30 Jahre nach der Katastrophe im Sperrgebiet leben und wie deren Alltag aussieht.

Leben in der Sperrzone von Tschernobyl - Selbstversorger, Rentner, Heimkehrer (11 Bilder)

Selbstversorger Ivan und seine Frau Maria

(Bild: Heiko Roith)

Wie war das Ganze organisiert? Haben Sie sich einer geführten Tour angeschlossen, oder hatten Sie eigene Guides?

Roith: Das alles wäre ohne ein Team gar nicht machbar gewesen. Ohne die Hilfe und Unterstützung von meiner Frau Anke Roith-Seidel und Matthias Kuhn, die an der Planung und Bearbeitung der Materialien maßgeblich beteiligt waren, gäbe es kein Projekt Chernobyl30. Wir hatten unseren Guide direkt über den Kontakt mit Chernobyl NPP, also dem Betreiber des Kraftwerks, bekommen und dadurch war es uns auch möglich in Bereiche und Regionen zu kommen, die sonst verschlossen bleiben. Selbst die Arbeiter vor Ort, haben zu manchen dieser Zonen keinen Zutritt. Ohne Genehmigung ist zumindest kein legales Betreten der Sperrzone möglich.

Der Fotograf Heiko Roith

(Bild: 

Heiko Roith

)

Heiko Roith ist in Sydney aufgewachsen, heute lebt und arbeitet er in Oberfranken. Zu Beginn seiner Karrieren hat er als Produkt-, Landschafts- und Stillife-Fotograf gearbeitet. Nach diesen eher ruhigen Motiven wollte er mehr Leben in seinen Bildern und hat sich auf die Bühnenfotografie spezialisiert. Ein weiterer Bestandteil seines fotografischen Portfolios sind weltweite Fotoreportagen und Dokumentationen.

Mit welchen Kosten ist eigentlich so ein selbst-organisierter Fototrip verbunden?

Roith: Eine individuelle Tour ist wesentlich teurer als eine Pauschalreise zum Reaktor. Unser Projekt Chernobyl30 war nur möglich, weil wir Unterstützung von unseren Sponsoren hatten. Flug, Unterkunft und die Guides, das alles kostet Geld. Nur aus der Privatschatulle wären die Reisen nicht finanzierbar gewesen.

Hatten Sie Zugang zu Gebieten, die normalen Touristen in Tschernobyl verschlossen bleiben?

Roith: Dadurch, dass wir im kleinen Team unterwegs war, konnten wir einige Plätze anfahren, die höhere Gefahren in sich bergen, ein ehemaliges Feriendorf zum Beispiel. Die Strahlung ist dort zu hoch, um mit einer größeren Gruppe zu bleiben. Es bleibt nur wenig Zeit, um schnell ein paar Aufnahmen zu machen, bevor die Strahlungsdosis zu groß wird. Nach gerade einmal 5 Minuten haben uns die Guides wieder zum Aufbruch gedrängt. Im Kraftwerk selbst konnten wir nach einem Gespräch mit dem Pressechef bis an die Wand des Reaktor 4 kommen. Dort trennte uns nur noch eine rostige Stahltür vom Ort der Katastrophe.

Die Natur im Sperrgebiet (8 Bilder)

Ortsschild Prypjat und Blume

(Bild: Heiko Roith)

In der Sperrzone konnte sich die Natur in den letzten 30 Jahren praktisch ohne menschliche Eingriffe entwickeln. Wie fühlt man sich, wenn man dort allein oder in einer kleinen Gruppe unterwegs ist?

Tschernobyl - 30 Jahre nach der AKW-Katastrophe


Roith: Ganz allein ist man nie, da immer ein Guide an deiner Seite ist. Aber selbst in der kleinen Gruppe ist immer eine gewisse Spannung zu spüren. Jeder ist aufmerksamer, alles fühlt sich normal an, aber jeder weiß, dass die Strahlung immer noch eine Gefahr ist. Und manchmal siehst du einen missgestalteten Baum, irgend einen Gegenstand, oder ein Gebäude, dass deutliche Spuren aus den letzten 30 Jahren trägt. Die Gefahr ist nicht an jeder Stelle im Sperrgebiet, aber wenn punktuell Strahlung auftritt, dann kann es auch schon zu spät sein. Bei der Besuch des ehemaligen Elektrowerkes Vector (nicht identisch mit der Atommüll-Verarbeitungsanlage Vektor) sind wir auf zwei Behältnisse gestoßen, die entfernt an handelsübliche Raumerfrischer erinnerten. Erst als wir wieder zu Hause waren, habe ich von einem befreundeten Physiker erfahren, dass es sich dabei um Plutoniumfilter handelt. Wenn wir weniger vorsichtig gewesen wären, hätten wir uns daran ohne weiteres tödlich vergiften können. Ob es sich bei der Anlage tatsächlich wie offiziell angegeben, um ein Energiewerk handelte, ist übrigens fraglich. Die Einheimischen sagen, dass Vector militärisch genutzt wurde.

Gibt es offensichtliche Anzeichen dafür, dass die Natur sich dort anders verhält, als in nicht-kontaminierten Gebieten?

Roith: Es gibt immer wieder Bäume, die plötzliche Änderungen in der Wuchsrichtung aufweisen, wo Äste vermeintlich willkürlich die Richtung gewechselt haben. Das fällt einem dann schon auf, wenn man länger in der Wildnis unterwegs ist. Das ist meistens ein Andenken an die Katastrophe. Der Rote Wald ist da wohl am deutlichsten betroffen. Das ist auch eines der Gebiete, die nur kurz aufgesucht werden. Die Guides fahren am Liebsten auch nur durch ohne Aufenthalt. Hier ist die Strahlung immer noch deutlich erhöht.

Arbeiter und Werktätige in und um Tschernobyl (13 Bilder)

Arbeiter des Atomkraftwerkes am Bahnhof

(Bild: Heiko Roith)

In der Zone leben große Säugetiere wie Pferde, Wisente, Elche, Rotwild, Wölfe, verwilderte Hunde und Bären. Wie verhalten sie sich Menschen gegenüber?

Roith: Die Wölfe und Wildschweine kommen immer wieder auch ins Stadtgebiet. Die Tiere sind weit weniger menschenscheu als wir das aus Deutschland kennen. Das habe ich bei Wildpferden und Wölfen selbst erlebt. Ich habe auch einen Wolf streicheln können und hatte eine seltsame Begegnung mit einem Keiler. Einige Tiere wirken entspannter als man das erwarten würde. Andere, wie beispielsweise die Wildpferde, treten fordernder und aggressiver auf. Und in den Straßen streunen immer ein paar Hunde herum. In Tschernobyl gibt es übrigens auch einen Zoo, der kleinere Wildtiere beherbergt.

Kann man sich in der Zone frei bewegen oder sind Vorsichtsmaßnahmen zu beachten?

Roith: In Tschernobyl selbst können Sie sich frei bewegen, es wird aber bei Besuchern nicht gern gesehen. Nach 22 Uhr besteht ein Ausgangsverbot. Es gibt aber auch nicht wirklich viele Gründe, sich noch draußen herum zu treiben. Und im Sperrgebiet sind die Ansagen der Guides ziemlich eindeutig, wo sie hingehen dürfen und wo nicht.

Gab es schon Unfälle mit Wildtieren in der Sperrzone, bei denen Menschen zu Schaden kamen?

Roith: Ich selbst hatte keine unangenehmen Begegnung mit Wildtieren. Einer der Guides von den ersten Reisen im Jahr 2014, erzählte mir, dass von einer Frau, die wir damals besucht hatten, nach dem Winter nur noch Überreste gefunden wurden. Ihm zufolge war es eine Wolfsattacke. Ob die Tiere allerdings erst über die Tote hergefallen sind, oder ob die Frau durch einen Angriff umgekommen ist, konnte keiner mehr feststellen. Laut unserem Guide ist das kein Einzelfall. Es ist aber immer schwierig, solche Geschichten durch unabhängige Quellen zu verifizieren.

Der Bau des neuen Sarkophages für den Unglücksreaktor von Tschernobyl (9 Bilder)

Die Baustelle am Reaktor

(Bild: Heiko Roith)

Wie fühlt man sich eigentlich nach einem längeren Aufenthalt in der Sperrzone?

Roith: Das kommt darauf an. Wenn alles gut gelaufen ist, dann fühlen Sie sich in erster Linie erleichtert, wieder auf sicherem Terrain zu sein. Diese Anspannung, dass jederzeit etwas passieren kann, fällt dann von einem ab. Wenn Sie doch zu lange am falschen Ort gewesen sind oder mit einem verstrahlten Gegenstand in Berührung gekommen sind, dann können Sie auch heute noch die Strahlenkrankheit bekommen. Das ist auch dann, wenn es nicht akut lebensbedrohlich ist, fürchterlich. Doch im Nachhinein betrachtet waren die Gefahren im Sperrgebiet in gewisser Weise vorhersehbar und berechenbar.

Die Sperrzone um das Atomkraftwerk darf man nur mit Genehmigung betreten. Was für Menschen sind das, die dort leben und arbeiten?

Roith: Das sind vor allem Arbeiter. Bis zum Jahr 2000 war das Atomkraftwerk noch in Betrieb und hat Atomstrom geliefert. Der Rückbau der Reaktoren dauert lange und ist aufwendig. Dazu kommen noch Arbeiter, die den neuen Sarkophag bauen. Alles in allem sind im Sperrgebiet mehrere Tausend Menschen dauerhaft beschäftigt. Diese leben teils in Slawutytsch, teils in Tschernobyl. In der Sperrzone dürfen die Arbeiter immer nur 15 Tage am Stück bleiben und müssen sich dann außerhalb aufhalten. Sie leben leben für die Zeit ihrer zweiwöchigen Schicht in den Wohnblöcken überall in der Stadt.

Gibt es auch Menschen die dauerhaft in der Sperrzone leben?

Roith: Es gibt einige Rentner die dort dauerhaft leben. Das sind zum Beispiel Hausbesitzer, die in die verlassenen Dörfer zurückgekehrt sind. Weil die schmale Rente oft nicht reicht, sind die Menschen teilweise Selbstversorger. Wer Zugang zu einem Stück Land hat, baut eigene Kartoffeln und Gemüse oder Obst an.

Welche Infrastruktur gibt es im Sperrgebiet?

Roith: In Tschernobyl gibt es einige kleine Supermärkte. In einem habe ich auch einen Geldautomaten gesehen. Eine Buslinie fährt zum Kraftwerk, in der Stadt sind die Menschen mit privaten Fahrzeugen unterwegs. Für Notfälle ist ein Arzt in der Stadt. Die Hauptversorgung übernimmt aber das Krankenhaus in Slawutytsch. Ich war in einer Bar, bei einer der ersten Reisen, sonst gibt es nur die Möglichkeit, im Hotel etwas zu trinken. Aber sogar ein sehr bescheidenes Kulturangebot besteht. Zum Jahrestag der Katastrophe wird beispielsweise ein Konzert veranstaltet. Die Stadt wirkt sehr skurril, da die Einrichtungen dort ursprünglich für rund 14.000 Bewohner konzipiert waren. In Tschernobyl selbst leben jetzt aber nur noch 1700 Menschen.

Hatten Sie den Eindruck, dass die Menschen dort sich vor der Strahlung fürchten und entsprechend verhalten?

Roith: Nein, die Menschen die dort leben, haben keine Angst vor der Strahlung. Sie haben sie als Teil ihres Lebens akzeptiert. Die Alten fragen, was das mit der Strahlung sein soll, ihre Beschwerden kämen vom Alter. Auf Krankheiten angesprochen, antworten sie, dass es nicht besser wird. Die Menschen die wir getroffen haben, machten einen zufriedenen Eindruck. Sie haben sich mit ihrer Situation arrangiert und versuchen, das Beste daraus zu machen. Das ist bewundernswert und verstörend zugleich. (sts)