Gegensätze

Philosophische Kolumne: Von Tigern und Gerichtsurteilen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Als Mensch hat man es manchmal schwer, bestimmte menschliche Gegensätze auszutarieren. Zum Beispiel den Gegensatz von Mann und Frau. Wenn beispielsweise eine Frau eine Kolumne schreibt, machen sich männliche Kommentatoren darüber lustig, dass man als Frau eine Kolumne schreibt - wäre die Frau ein heimlicher Transvestit, wäre das genauso. Oder zum Beispiel der englische Prinz Harry, was soll der tun? Hat er nichts an, regen sich die Medien und die Großmutter auf - wenn er statt einem Adams- ein Nazi-Kostüm trägt, aber auch.

Nicht anders bei den Tieren, zum Beispiel dem Kölner Tiger Altai: Wenn der sich um seine Jungen kümmert, ist er dem Zookurator ein "unglaublich liebevoller Vater" - aber wenn die Katze dann dem Nachwuchs am Beispiel vorführt, was Tiger mit kleineren Lebewesen normalerweise tun, dann wird der liebe Papa großkalibrig erschossen.

Abgesehen davon, dass man auf diese Weise davon erfährt, dass normale Polizeiwaffen keinem Tiger etwas anhaben könnten und man bei Bedarf und Begegnung mit einem Tiger am besten einen Zoodirektor mit einschlägigem Waffenschrank konsultieren sollte, lernt man aus solchen Geschichten auch anderes. Nicht nur, dass Tiger gefährlich sind - auch und vor allem in Zoos, weil trotz aller Zebrastreifen Tiger in den Innenstädten selten sind -, man bekommt auch wieder gezeigt, dass und wie schnell sich im Leben eine Sache in ihr Gegenteil verkehrt. Dann werden süße Tiere grob und dann kommt der Mensch, die Krone der Schöpfung und Ende der Nahrungskette an deren Anfang, der Ehepartner wird zum Feindobjekt oder das Urlaubs-Griechenland zur Eurohölle.

Oft wird der Überblick über Denkschablonen im Laufe der Zeit unübersichtlich. Wenn zum Beispiel der Amokläufer Breivik bei seinem Urteilsspruch lächelt und sich die Angehörigen seiner Opfer ebenfalls über das Urteil freuen, dann wird die Sache vor lauter Gegensätzen kompliziert. Kann es beiderseitig positive Emotionen bei so gegensätzlichen Parteien geben? Breivik erkennt das Gericht nicht an, dessen Einschätzung seiner Person als zurechnungsfähig ist ihm aber trotzdem wichtig. Hätte er das Gegenteil seines Gerichts akzeptiert, einen Staat, dessen Beamte ihn auf der Insel Utøya gejagt und erschossen hätten?

Warum wurde ihm zuerst schizophrene Paranoia attestiert und dann ganz im Gegenteil die Zurechnungsfähigkeit? Natürlich sind psychologische Krankheitsprofile so artenreich, dass in diesem Fall sogar die Kenner ihre Probleme hatten. Natürlich hatte Breivik erstens keine Halluzinationen und zweitens viel zu viel Zeit in seine Planung investiert, als dass er als unzurechnungsfähig hätte eingestuft werden können. Aber er hat Menschen vernichtet wie andere Leute Tontauben, und er hat für besagte Planung, wie gesagt, so unglaublich viel Zeit investiert, Hochrechnungen von Kreuzzugsopfern und Ermordeten erstellt, Ritterorden und Grabmäler konzipiert, Kostenvoranschläge für Kernkraftwerks-Anschläge erstellt und seiner nächsten weiblichen Verwandtschaft den Chlamydienbefall zum Vorwurf gemacht, dass man sich schon fragen muss: Wenn das nicht krank ist, was dann? Oder ist im Gegensatz dazu der krank, der das nicht für krank hält?

Breivik hatte nicht nur ein umfangreiches Manifest geschrieben, sondern vor seiner Tat auch ein Video mit seiner Weltanschauung ins Netz gestellt, in dem er sich auch als Kreuzritter imaginiert. Screenshot aus dem Video.

Das Urteil darüber war kein leichtes. Da mussten nicht nur Argumente miteinander verglichen werden, sondern ganze Parallelwelten mit völlig verschiedenen Schlussfolgerungen. Das war umso schwerer, je mehr man Breivik als zurechnungsfähig einschätzte. Ihn als geisteskrank einzuordnen, hätte das Verfahren vereinfacht und die Illusion aufrecht erhalten, dass so etwas wie kaltblütiger Narzissmus und Lust am Töten nur ein unvorhersehbarer Betriebsfehler im Hirnstamm und nicht auch in Norwegen eine immer vorhandene Möglichkeit ist.

Natürlich war dieses Urteil die beste Gewähr dafür, Breivik längstmöglich und in die kleinste dafür vorgesehene Wohneinheit zu sperren, wenn man ihn schon nicht zu den Tigern schicken konnte. Hätte man sich mit ihm angelegt, ihn demütigen wollen und für unzurechnungsfähig erklärt, das Verfahren wäre in die Berufung gekommen. Nun ist es aber endlich vorbei, und in der nationalistischen bzw. Multikultur-feindlichen Szene teilt sich die Einschätzung des Urteils in zwei gegenteilige Einschätzungen, pro und contra, aber das in einem Verhältnis, das den Eindruck erweckt, dass Breivik derzeit nicht die Anhängerschaft hat, um Kult zu werden.

Die Handhabung von Gegensätzen macht das wirklich "menschliche" Bewusstsein aus

Vielleicht erfährt man aber auch nicht alles und soll auch nicht alles erfahren, was sich da so tut. Vielleicht ist das manchmal auch besser so. Das ist das Bizarre an manchen Gegensätzen. Manchmal ist es besser, man löst sie nicht auf. Das gilt vielleicht nicht unbedingt für Vergleichsfragen wie: Warum bekommt Breivik für 77 Tote 21 Jahre Einzelhaft und werden 5 Riot-Pussys für ein 1,53 Minuten dauerndes Kirchenpunk-You-Tube-Video zu 2 Jahren Straflager mit maximal 15 Minuten Telefonieren im Monat verurteilt (der eigentlich noch kürzere Auftritt selbst hatte zunächst keinen Aufruhr verursacht, das ins Netz gestellte Auftritts-Video dafür dann umso mehr)?

Oder warum bekommen hierzulande Steuersünder tendenziell harte Strafen und Vergewaltiger tendenziell eher Therapien, und impliziert das, dass Steuerbetrug untherapierbar ist (schon Erwin Huber meinte in seiner Zeit als bayerischer Finanzminister, dass bei den Deutschen der Spartrieb besser ausgeprägt sei als der Sexualtrieb)? Es ist manchmal schwer, Gegensätze und Relationen auszutarieren. Nicht selten gehen Gegensätze auch beim Sieg der einen Sache relativ in die andere über. So wie sich Eheleute irgendwann ähneln, und so wie seit dem Fall der Mauer im Westen Kinderkrippen, Doppelsemmeln und Warteschlangen aufkamen.

Manchmal soll es zwischen Gegensätzen auch Kompromisse geben - eine Legende der Gegenwart, ähnlich der, dass der Euro zu keiner Verteuerung geführt hat: Natürlich darf man hoffen, dass es im Leben auch Kompromisse geben kann, aber vielleicht ist es manchmal besser, man rechnet gar nicht erst nach. Manchmal gewinnt man durch oder trotz rationaler Kontrolle, manchmal durch das Gegenteil. Je nachdem.

Am schwierigsten ist die kompetente Handhabung von Gegensätzen. Im Fall Breivik hat letzteres in mehrfacher Hinsicht die Vorsitzende Richterin Wenche Elizabeth Arntzen geschafft, nicht nur, weil sie an manchen Stellen der Verhandlung weinte, wie es Männer nie öffentlich tun (oder zumindest selten, und wenn dann mehr auf

Sportplätzen) - und dann das härteste Urteil fällte, das zur Verfügung stand. Die Handhabung von Gegensätzen ist das, was das wirklich "menschliche" menschliche Bewusstsein ausmacht, sowohl in psychologischer, als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Zwischen Gegensätzen passieren die wiklich interessanten Sachen.

Das Bewusstsein von großen Gegensätzen wie Gott/Welt oder Ideal/Wirklichkeit ist das, worauf die Denkgebäude großer Kulturen gebaut werden. Für Breivik war der Gegensatz zu den Regeln seiner Gesellschaft, sein Amoklauf und sein eigener Gesellschafts-Gegenentwurf das, was ihm gefallen hat. Vor allen Dingen hat er große "philosophische" Ideen vermisst, sonst hätte er nicht Tausende von Seiten seiner ganz eigenen Geschichtsphilosophie entworfen. Aber seine Verurteilung und seine Einstufung als nicht geisteskrank beinhalten dann andererseits ein Bewusstsein von Gesellschaftsidealen, das sich in keiner Weise als so ideologieschwach und verweichlicht erwiesen hat, wie Breivik es Norwegen vorgeworfen hat. Sonst wäre er mittlerweile in der Psychiatrie und nicht im Gefängnis. In Amerika wäre er wahrscheinlich nicht so weit gekommen, sondern vielleicht vor der Festnahme erschossen worden - also dann ausgerechnet von Leuten, die Multikultur als Grundfeste ihres Staates loben ... Wie gesagt: Es ist manchmal nicht leicht, Gegensätze auszutarieren.