Musik: Der Mythos des Analogen

Die digitale Aufnahmetechnik ist mittlerweile deutlich besser als ihr Ruf. Nur eines kann sie nicht so gut wie Vinyl: rumpeln und knistern.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Karl-Gerhard Haas

Andreas Rieke ist besser bekannt als And.Ypsilon, der Soundtüftler der Hip-Hopper "Die Fantastischen Vier". 2013 mischte er im Ludwigsburger Tonstudio Bauer die Vinylfassung eines Konzerts der Band. Am Rande der Studiosessions fachsimpelte er laut "Stuttgarter Zeitung" mit Eigentümerin Eva Bauer-Oppelland über datenreduzierte Digitalformate. "Da gibt man sich viel Mühe mit seiner Musik, aber die Leute hören das als MP3, und alles ist verkrumpelt." Den kanadischen Rockmusiker Neil Young fuchste die vermeintlich schlechte MP3-Qualität so sehr, dass er mit dem "Pono Player" einen digitalen Musikspieler lancierte, der hochauflösende, verlustfreie Digitalformate unterstützt.

Andere Musiker und Musikliebhaber sind noch rigoroser – sie lehnen nicht nur datenreduzierte Formate ab, sondern generell Digitaltechnik. Ein wesentlicher Kritikpunkt am digitalen Klang lautet: Analog lassen sich beliebig feine Nuancen speichern, zur Digitalisierung hingegen wird die Musik nach fest vorgegebenem Schema gerastert und zerlegt. Vinylliebhaber schwärmen vom runderen, weicheren Klang ihrer Scheiben. 2015 machten Schallplatten 4,7 Prozent des Marktes physischer Tonträger aus – Tendenz steigend.

Aber klingen Digitalaufnahmen wirklich so schlecht? Die akustischen Gesetzmäßigkeiten jedenfalls sagen etwas anderes. Mit PCM beispielsweise, dem vorherrschenden System für digitale Tonaufnahme und -speicherung, wie es üblicherweise für CDs verwendet wird, lassen sich Schallfrequenzen bis 20 Kilohertz umwandeln (siehe Kasten). Die Dynamik, also der Unterschied zwischen lautester und leisester Stelle, kann dabei bis zu 96 Dezibel (dB) betragen. Das ist mehr, als Kassettendeck, UKW-Rundfunk oder eine Vinylschallplatte bieten. Selbst viele professionelle Bandmaschinen halten da nicht mit.

Um herauszufinden, woher der schlechte Ruf der Digitalaufnahmen stammt, muss man sich die Geschichte der digitalen Audiotechnik in Erinnerung rufen. Wer mal ein Kassettendeck besaß, kennt die Aussteuerungsanzeigen, die signalisieren, mit welchem Pegel Musik aufgenommen wird. Streng genommen darf der 0-dB-Punkt ("Vollaussteuerung") nicht überschritten werden. Bei analogen Aufnahmen sind kurze Übersteuerungen allerdings nicht schlimm. Sie erzeugen sogenannte harmonische Übersteuerungen, Oberwellen des Originalsignals, die wenig stören und oft sogar als schön empfunden werden.

Anders bei PCM: Bis zur Nulllinie sind die Verzerrungen minimal, jedes bisschen darüber produziert jedoch harsche, stark hörbare Missklänge. Um sie zu verhindern, achteten die Toningenieure strikt darauf, dass der 0-dB-Punkt nie überschritten wurde – und schränkten dafür die Dynamik der Aufnahmen ein. Die ersten verfügbaren digitalen Audiorekorder konnten die theoretischen Möglichkeiten schlicht nicht ausnutzen. Eine weitere Schwierigkeit aus den Anfangszeiten: Jenseits der CD-Aufnahmen sind bei Studioproduktionen andere Abtastraten Standard als die CD-üblichen 44,1 kHz.

Abtastratenwandler waren teuer und anfangs nicht immer gut – oft blieb den Technikern nur ein Ausweg: Im Laufe einer CD-Produktion wurde das Signal gleich mehrfach von analog zu digital und zurück gewandelt. Die zur Verfügung stehenden Analog-/Digitalwandler (A/D) steckten ihrerseits in den Kinderschuhen, ihre Genauigkeit ließ zu wünschen übrig.

All diese Mängel sind spätestens seit den 2000ern beseitigt: Auf der Produktionsseite sind gut viermal höhere Abtastfrequenzen als früher üblich, bis zu 192 kHz. Sie liefern das Futter für die "High Resolution"-Musikdateien, wie sie etwa der "Pono" spielt. Die Wandlertechnik wurde ebenfalls verbessert, bei Studioequipment wie bei CD-Spielern. Heutzutage liegt schlechte Klangqualität eher an den akustischen Vorlieben von Schallplattenfirmen, Musikern und Produzenten als an der Technik: Viele aktuelle Musikaufnahmen sind auf Lautheit getrimmt – der "Loudness War" nutzt von den 96 Dezibel Dynamik einer CD oft weniger als 5 dB. Gerade mit guter Hi-Fi-Ausrüstung klingt das bescheiden und hörbar verzerrt.

Kinderkrankheiten sind auch der Grund für den schlechten Ruf, den Datenreduktionsverfahren wie MP3 bei manchen Musikfreunden haben. Ernst F. Schroeder, bei Telefunken (später Thomson) in Hannover einer der vielen Mitentwickler von MP3, erinnert sich: "Wir wollten das Nachfolgeformat für den UKW-Rundfunk definieren. Bei den verfügbaren Sendefrequenzen geht das nur mit Datenreduktion." Er und der später bei MP3 federführende Karlheinz Brandenburg vom Fraunhofer-Institut IIS in Erlangen hatten anfangs weder MP3-Spieler noch Musikdownloads im Sinn. Ein vom IIS ins Netz gestellter "Referenzencoder" sollte lediglich die Fertigkeiten von MP3 demonstrieren. Er entsprach keineswegs dem, was mit der Technik möglich war. Zudem encodierte er nur eine Minute Musik. Ein Student knackte jedoch die Spielzeitbeschränkung und stellte diese Schmalspurversion des Encoders ins Netz – der Beginn der MP3-Welle.

Erst Ende der 1990er gab es für PC-Nutzer legale Möglichkeiten, kostenlos an optimierte Fraunhofer-MP3-Encoder zu kommen, beispielsweise durch das damals populäre Musikverwaltungsprogramm MusicMatch. Bei ausreichend hoher, variabler Datenrate (erfahrungsgemäß alles jenseits von 200 Kilobits pro Sekunde) tun sich inzwischen selbst Menschen mit gut geschultem Gehör schwer, noch einen Unterschied zum Original zu hören. Wenn MP3 schlecht klingt, dann wegen zu niedriger Bitraten, veralteter Encoder-Software – oder eines schlechten Kopfhörerverstärkers im Smartphone.

So gehören nur noch das Knistern, Rumpeln und Rauschen und die sonstigen Probleme der mechanischen Abtastung bei Vinyl zum vermeintlich guten Ton des Analogzeitalters. (bsc)