Merkel in der Türkei: Die gezähmte Kanzlerin

Angela Merkel angespannt bei der Pressekonferenz mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Screenshot aus dem YouTube-Video der türkischen Regierung.

Der Flüchtlingsdeal überschattet das deutsch-türkische Verhältnis und verhindert eine klare Haltung der Bundesregierung - Ein Kommentar

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Zum ersten Mal seit dem Putschversuch im Juli 2016 besuchte gestern Bundeskanzlerin Angela Merkel die Türkei. Schon im Vorfeld des unglücklich terminierten Treffens mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hagelte es Kritik in der deutschen Presse. Und die türkische Opposition pochte auf klare Worte.

Erdogan machte schon einen Tag vorher klar, welchen Stellenwert die bundesdeutsche Kritik bei ihm hat: Am Mittwoch wurden türkeiweit insgesamt 1848 Personen festgenommen. Ein neuer Höhepunkt der seit Monaten andauernden Massenverhaftungen von Regimegegnern.

Und auch am Morgen des Kanzlerinnenbesuch rückten Spezialkräfte der türkischen Polizei in martialischer Montur aus und nahmen fast 100 Personen in Gewahrsam, immer mit derselben Begründung: Unterstützung von Terrorismus. Bei den meisten Festgenommenen handelt es sich um Menschen, denen wahlweise Nähe zur PKK oder zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird.

Um die Terrorbekämpfung ging es dann auch beim Gespräch der beiden Staatschefs: In der anschließenden Pressekonferenz in Erdogans Palast in Ankara sagte Merkel, man wolle in dieser Frage künftig enger zusammenarbeiten. Wie die Kooperation genau aussehen soll, dazu schwiegen beide. Merkel sagte, man habe über den Terror der PKK und des IS gesprochen - aber Erdogan dürfte vor allem das Thema Gülen wichtig gewesen sein.

Er und seine Partei AKP werfen Deutschland vor, ein sicherer Unterschlupf für Terroristen zu sein und fordern härtere Maßnahmen gegen die Gülen-Bewegung. Darauf ließ sich die Kanzlerin nicht ein. Und das ist gut so. Denn noch immer ist die Schuld Gülens am Putschversuch nichts weiter als eine unbelegte Behauptung der AKP. Deutsche Behörden sehen daher keinen Anlass, aktiv zu werden.

Anders sieht es mit dem Erdogan unterstellten Islamverband DITIB aus, der derzeit in einen Spionage-Skandal verwickelt ist: DITIB-Imame, also türkische Staatsbeamte, hetzten wiederholt gegen Christen und "Ungläubige" und sollen in Deutschland Erdogan-Gegner bespitzelt haben. Gülen-Anhänger berichten, dass sie bedroht werden. Inzwischen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, worauf Angela Merkel aber nur sehr zurückhaltend einging - anders als auf die AKP-Forderung, türkische NATO-Soldaten auszuliefern, die in Deutschland Asyl beantragt haben. Darüber, so die Kanzlerin entschlossen, hätten in einem Rechtsstaat die Gerichte zu entscheiden.

Peinliches Spiel

Aber am Ende ging es im Kern einmal mehr um den Flüchtlingsdeal. Erdogan, der mehrfach gedroht hatte, die rund zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei mit Bussen in die EU zu schicken, beklagte, dass die zugesagte drei Milliarden Euro noch immer nicht angekommen seien. Merkel verwies auf die bereits herübergereichten 750 Millionen Euro und bekräftigte: Das restliche Geld wird kommen.

Das dürfte Erdogan - vorerst - besänftigt haben. Auch, dass die Kanzlerin sagte, die Türkei leiste täglich "Außergewöhnliches" für die Geflüchteten. Was so nicht den Fakten entspricht. Tatsächlich lebt der größte Teil unter prekären Bedingungen in Lagern, viele werden als Tagelöhner ausgebeutet, islamistische Stiftungen sind in erster Linie an Indoktrinierung der Leute interessiert, und der IS fischt unter ihnen nach neuen Rekruten. Zahlreiche Hilfsorganisationen, die sich bemühten, echte Unterstützung zu leisten, wurden im Zuge der Säuberungsaktionen geschlossen und verboten, hunderte Helfer inhaftiert. Am stärksten sind kurdische Organisationen betroffen.

Es ist ein peinliches Spiel. Krampfhaft hält die Bundesregierung an dem Deal fest, der Menschen zum Spielball geostrategischer Interessen macht, anstatt die Vereinbarung aufzukündigen und die Energie darauf zu verwenden, endlich eine europäische Lösung herbeizuführen. Zwei Millionen Geflüchtete innerhalb der EU mit ihren 500 Millionen Bürgern zu verteilen wäre kein Problem, wenn nicht nationalstaatliche Egoismen und der Druck rechtsradikaler Bewegungen wie in Deutschland Pegida und AfD das Konzept EU torpedieren würden. Und nicht nur den Geflüchteten, auch der türkischen Opposition erweist die Bundeskanzlerin einen Bärendienst.

Immerhin: "Opposition gehört zu einer Demokratie", sagte sie bei der Pressekonferenz und mahnte: "Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit müssen gewahrt werden." Woraufhin Erdogan unwidersprochen entgegnete: "Es ist nicht wahr, dass Meinungsfreiheit und Opposition im Präsidialsystem gefährdet wären. Die Gewaltenteilung soll nicht abgeschafft werden. Aber die Exekutive wird schneller arbeiten, schneller Entscheidungen treffen können. Das Parlament hat entschieden, als nächstes wird das Volk entscheiden. Und der Entscheidung des Volkes werden sich alle anpassen müssen."

Zum einen stimmt das nicht. Die Gewaltenteilung ist schon jetzt nicht mehr gegeben. Die Säuberungen haben Polizei und Justiz auf Regierungslinie gebracht, es herrscht Willkür in einem Polizeistaat; im Präsidialsystem wäre das Parlament komplett überflüssig. Erdogan hätte alle Fäden in der Hand. Und wie sehr er sich an Entscheidungen der Bevölkerung gebunden fühlt, zeigte er 2015, als er nach der Parlamentswahl, bei der die AKP ihre Mehrheit verloren hatte, erst die Koalitionsgespräche blockierte und schließlich Neuwahlen erzwang.